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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Bibliothek recherchiert. Alles über Hunger und Durst. Wußten Sie eigentlich, Mister Aufziehvogel, daß jemand mal einundzwanzig Tage unter der Erde gelebt hat? Während der Russischen Revolution.«
    »Ernsthaft?« sagte ich. »Er muß ganz schön gelitten haben.«
    »Aber wirklich.«
    »Er hat’s überlebt, aber ihm sind sämtliche Haare und Zähne ausgefallen. Ratzekahl. Auch wenn er’s überlebt hat, muß es fürchterlich gewesen sein.«
    »Aber wirklich.«
    »Aber auch wenn Sie Ihre Zähne und Haare verlieren sollten, könnten Sie mit einem anständigen Toupet und Gebiß wahrscheinlich ein ziemlich normales Leben führen.«
    »Ja, zumal Perücken und Kunstgebisse seit der Russischen Revolution gewaltige Fortschritte gemacht haben. Das könnte die Sache schon etwas erleichtern.«
    »Wissen Sie, Mister Aufziehvogel …« sagte May Kasahara und räusperte sich. »Was?«
    »Wenn die Menschen ewig lebten - wenn sie nie älter würden - wenn sie einfach immer weiter in dieser Welt leben könnten, niemals sterben, nie krank werden - glauben Sie, die würden sich noch die Mühe machen, über irgendwas ernsthaft nachzudenken, so wie wir’s jetzt tun? Ich meine, wir denken über so ziemlich alles nach, mehr oder weniger - Philosophie, Psychologie, Logik. Religion. Literatur. Ich denk irgendwie, wenn’s so was wie den Tod gar nicht gäbe, dann würden so komplizierte Gedanken und Ideen gar nicht in die Welt kommen. Ich meine -«
    May Kasahara unterbrach sich und blieb eine Weile stumm, und so lange hing ihr »ich meine« in der Dunkelheit des Brunnens wie ein abgehacktes Gedankenfragment. Vielleicht wollte sie mittlerweile gar nichts mehr sagen. Oder vielleicht mußte sie erst einmal überlegen, was als nächstes kam. Ich hielt einfach den Kopf gesenkt und wartete schweigend darauf, daß sie fortfuhr. Mir ging es durch den Kopf, daß May Kasahara, wenn sie mich gleich umbringen wollte, dies ganz mühelos tun konnte. Sie brauchte nur einen großen Stein in den Brunnen fallenzulassen. Wenn sie es ein paarmal versuchte, würde mir früher oder später mit Sicherheit einer auf den Kopf fallen.
    »Ich meine … jedenfalls glaube ich, daß … die Menschen deswegen ernsthaft darüber nachdenken müssen, was es für sie bedeutet, hier und jetzt zu leben, weil sie wissen, daß sie irgendwann sterben. Stimmt’s? Wer würde sich schon Gedanken über den Sinn des Lebens machen, wenn er einfach ewig weiterleben würde? Warum sollte man dann überhaupt auf die Idee kommen? Oder selbst wenn jemand auf die Idee käme, würde er sich wahrscheinlich einfach sagen: ›Was soll’s, dafür hab ich noch mehr als genug Zeit. Ich kann ja irgendwann später drüber nachdenken.‹ Aber wir können nicht bis später warten. Wir müssen gleich jetzt in dieser Sekunde darüber nachdenken. Ich könnte morgen nachmittag von einem Laster überfahren werden. Und Sie, Mister Aufziehvogel: Sie könnten verhungern. Eines schönen Morgens in drei Tagen könnten Sie tot auf dem Grund des Brunnens liegen. Verstehen Sie? Niemand weiß, was passieren wird. Also brauchen wir den Tod, um uns höherzuentwickeln. Denke ich wenigstens. Der Tod ist ein riesiges, strahlendes Etwas, und je größer und strahlender es ist, desto mehr müssen wir uns über alle möglichen Dinge den Verstand verrenken.« May Kasahara hielt inne. »Sagen Sie mal, Mister Aufziehvogel …«
    »Was?«
    »Da unten im Dunkeln - haben Sie sich schon Gedanken über Ihren Tod gemacht? Darüber, wie Sie da unten sterben würden?«
    Ich mußte erst einen Augenblick über ihre Frage nachdenken. »Nö«, sagte ich. »Das ist eine Sache, über die ich nicht nachgedacht habe.«
    » Warum denn nicht?« fragte May Kasahara mit unterschwelliger Abscheu, als spräche sie mit einem mißgestalteten Tier. »Warum haben Sie nicht darüber nachgedacht? Sie sehen Ihrem Tod doch buchstäblich ins Auge. Ich mach keine Witze. Ich hab’s Ihnen schon gesagt - ich entscheide, ob Sie leben oder sterben.«
    »Du könntest einen Stein fallen lassen.«
    »Einen Stein? Wovon reden Sie eigentlich?«
    »Du könntest dir einen großen Stein besorgen und ihn auf mich drauffallen lassen.«
    »Na ja, klar, das könnt ich wohl.« Aber die Idee schien ihr nicht zu gefallen. »Jedenfalls, Mister Aufziehvogel, Sie müssen am Verhungern sein. Es wird nur immer schlimmer und schlimmer werden. Und bald geht Ihnen das Wasser aus. Also wie können Sie da nicht an den Tod denken? Finden Sie das etwa nicht verrückt?«
    »Tja ich

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