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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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traf meine Hand auf nichts. Ich fühlte eine breite Fläche mit der größten Sorgfalt ab, aber da war keine Leiter. An dem Ort, wo sie hingehörte, existierte sie nicht mehr. Ich atmete tief durch, riß die Taschenlampe aus dem Rucksack und knipste sie an. Von der Leiter war nichts zu sehen. Ich stand auf und leuchtete den Boden ab, dann die Wandung über mir, soweit der Lichtstrahl reichte. Die Leiter war nirgends. Kalter Schweiß kroch mir wie ein lebendiges Etwas an den Seiten des Brustkorbs herunter. Die Taschenlampe glitt mir aus der Hand, fiel zu Boden und ging beim Aufprall aus. Das war ein Zeichen. In diesem Augenblick rastete mein Bewußtsein aus: Es war ein Sandkorn, das von der umgebenden Finsternis verschlungen wurde. Mein Körper hörte auf zu funktionieren, als habe man den Stecker herausgezogen. Über mich kam vollkommenes Nichts.
    Es dauerte vielleicht ein paar Sekunden, bis ich wieder zu mir kam. Meine Körperfunktionen kehrten schrittweise zurück. Ich beugte mich hinunter und hob die Taschenlampe auf- sie lag zu meinen Füßen -, klopfte ein paarmal darauf und schaltete sie wieder ein. Das Licht kehrte anstandslos zurück. Ich mußte mich beruhigen und meine Gedanken ordnen. Angst und Panik würden nichts helfen. Wann hatte ich die Leiter zum letztenmal überprüft? Gestern, spät nachts, kurz bevor ich eingeschlafen war. Ich hatte mich vergewissert, daß sie da war, und war erst dann beruhigt eingeschlafen. Ein Irrtum war ausgeschlossen. Die Leiter war verschwunden, während ich geschlafen hatte. Man hatte sie hinaufgezogen. Entfernt.
    Ich schaltete die Taschenlampe wieder aus und lehnte mich an die Wand. Dann schloß ich die Augen. Meine erste Wahrnehmung war Hunger. Er rollte aus der Ferne, wie eine Woge, auf mich zu, brandete lautlos über mich hinweg und verlief sich dann. Als er verschwunden war, stand ich hohl da, leer wie ein ausgeweidetes Tier. Nachdem die anfängliche Panik vorüber war, verspürte ich weder Grauen noch Verzweiflung. Seltsamerweise empfand ich in diesem Moment nichts als eine Art von Resignation.
    Aus Sapporo zurückgekehrt, nahm ich Kumiko in die Arme und tröstete sie. Sie fühlte sich verloren und verwirrt. Sie hatte sich den Tag frei genommen. »Ich hab letzte Nacht kein Auge zugetan«, sagte sie. »In der Klinik war genau zum richtigen Zeitpunkt ein Termin frei, und da hab ich die Entscheidung allein getroffen.« Nachdem sie das gesagt hatte, weinte sie ein bißchen.
    »Jetzt ist es vorbei«, sagte ich. »Es hat keinen Zweck, noch länger daran zu denken. Wir haben es durchgesprochen, und so ist es eben ausgegangen. Wenn es noch etwas gibt, worüber du reden möchtest, dann tu’s am besten hier und jetzt. Danach vergessen wir das Ganze. Denken nicht mehr daran. Du hast am Telefon gesagt, du wolltest mir noch etwas sagen.«
    Kumiko schüttelte den Kopf. »Laß nur«, sagte sie. »Du hast recht. Vergessen wir die ganze Sache.«
    So lebten wir eine Zeitlang weiter, bemüht, Kumikos Schwangerschaftsabbruch mit keinem Wort zu erwähnen. Aber das war nicht einfach. Wir konnten uns über etwas völlig anderes unterhalten, und plötzlich verstummten wir beide abrupt. Am Wochenende gingen wir oft ins Kino. Im Dunkeln konnte es sein, daß wir uns auf den Film konzentrierten, aber ebensogut konnte es sein, daß wir an Dinge dachten, die überhaupt nichts mit dem Film zu tun hatten, oder daß wir einfach dem Kopf Ruhe gönnten und an gar nichts dachten. Oft wußte ich, daß Kumiko neben mir an etwas anderes dachte. Ich spürte es.
    Nach dem Kino gingen wir noch in irgendein Lokal und tranken ein Bier oder aßen eine Kleinigkeit. Manchmal wußten wir nicht, worüber wir reden sollten. So ging es sechs Wochen lang - sechs sehr lange Wochen, nach deren Ablauf Kumiko zu mir sagte: »Was hieltest du davon, wenn wir morgen wegfahren würden, einen kleinen Urlaub machen, nur wir beide? Morgen ist Freitag: Wir können bis Sonntag wegbleiben. Ab und zu braucht der Mensch so etwas.«
    »Ich weiß, was du meinst«, sagte ich lächelnd, »aber ich hab so meine Zweifel, ob bei mir im Büro jemand auch nur das Wort Urlaub kennt.«
    »Dann meld dich eben krank. Sag, du hast die Grippe oder sonstwas. Ich mach’s genauso.«
    Wir fuhren mit dem Zug nach Karuizawa. Ich hatte dieses Ziel ausgesucht, weil Kumiko gesagt hatte, ihr schwebe ein ruhiger Ort im Gebirge vor, wo wir nach Herzenslust Spazierengehen könnten. Im April war dort keine Saison; das Hotel war wie ausgestorben, die meisten

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