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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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ungeheure Anstrengung, mich zu beherrschen und nicht nachzusehen. Es war eine ähnliche Qual wie damals, als ich das Rauchen aufgegeben hatte. Von dem Augenblick an, als ich mir vornahm, nicht mehr an die Zeit zu denken, konnte mein Verstand an nichts anderes denken. Es war so etwas wie ein innerer Widerspruch, eine Bewußtseinsspaltung. Je mehr ich mich bemühte, die Zeit zu vergessen, desto mehr war ich gezwungen, an sie zu denken. Noch ehe es mir bewußt wurde, wanderten meine Blicke zu meinem linken Handgelenk, zur Uhr. Jedesmal, wenn das passierte, wandte ich das Gesicht ab, schloß die Augen und kämpfte gegen das zwanghafte Bedürfnis an, nachzusehen. Schließlich nahm ich die Uhr ab und steckte sie in den Rucksack. Selbst dann gab mein Denken nicht auf und stöberte jetzt im Rucksack nach der Uhr, die dort fortfuhr, die Zeit abzuticken.
    Und so floß die Zeit, uhrzeigerlos, weiter durch die Dunkelheit: Zeit, ungeteilt und ungemessen. Hatte sie erst einmal ihre Bezugspunkte verloren, hörte die Zeit auf, eine kontinuierliche Linie zu sein, und verwandelte sich in eine formlose Flüssigkeit, die sich willkürlich ausdehnte und zusammenzog. Innerhalb dieser besonderen Zeit schlief ich ein und wachte auf, schlief ich ein und wachte auf und gewöhnte mich allmählich an ein Leben ohne Uhren. Ich erzog meinen Körper dazu zu erkennen, daß ich keine Zeit mehr brauchte. Doch schon bald überfiel mich eine enorme Ängstlichkeit. Sicher, ich hatte mich von der gedankenlosen Angewohnheit befreit, alle fünf Minuten auf die Uhr zu sehen, doch kaum war der zeitliche Bezugsrahmen verschwunden, begann ich mich zu fühlen, als wäre ich mitten in der Nacht vom Deck eines fahrenden Schiffs in den Ozean gestürzt. Niemand hörte meine Schreie, und der Dampfer fuhr unbeirrt geradeaus weiter, immer weiter und weiter, bis er fast verschwunden war.
    Ich gab den Kampf auf. Ich holte die Uhr aus dem Rucksack und band sie mir wieder um. Sie zeigte Viertel nach sechs. Wahrscheinlich morgens. Als ich das letzte Mal auf die Uhr gesehen hatte, war es sieben Uhr sechsunddreißig gewesen. Neunzehn Uhr sechsunddreißig. Es erschien realistisch anzunehmen, daß seither elf Stunden vergangen waren. Dreiundzwanzig Stunden konnten es kaum gewesen sein. Aber sicher konnte ich das nicht wissen. Was ist der wesentliche Unterschied zwischen elf und dreiundzwanzig Stunden? Wieviele es auch sein mochten - elf oder dreiundzwanzig -, mein Hunger hatte erheblich zugenommen. Die Empfindung ähnelte nicht im mindesten der vagen Vorstellung, die ich mir früher von einem heftigen Hungergefühl gemacht hatte. Ich hatte angenommen, Hunger sei ein Gefühl von Leere. Statt dessen ähnelte er eher reinem körperlichen Schmerz - durch und durch körperlich und völlig unmittelbar, als würde man erstochen oder erdrosselt. Und dieser Schmerz war ungleichmäßig. Es mangelte ihm an Stetigkeit; er nahm wie eine Flutwelle zu, bis ich am Rande der Ohnmacht stand, und zog sich dann langsam wieder zurück.
    Um mich von diesen peinigenden Hungeranfällen abzulenken, versuchte ich, meine Gedanken auf etwas anderes zu konzentrieren. Aber an ernsthafte geistige Tätigkeit war nicht mehr zu denken. Gedankenfetzen trieben mir ins Bewußtsein und verschwanden dann wieder so plötzlich, wie sie gekommen waren. Wann immer ich einen von ihnen zu packen versuchte, schlüpfte er mir durch die Finger wie ein schleimiges, amorphes Tier.
    Ich stand auf, streckte mich und atmete tief durch. Jeder einzelne Teil meines Körpers tat weh. Jeder Muskel und jedes Gelenk schrie gequält auf, weil es sich so lange in einer verkrampften Position befunden hatte. Ich reckte mich langsam in die Höhe und machte dann ein paar Kniebeugen, aber nach zehn davon wurde mir schwindlig. Ich setzte mich wieder auf den Boden des Brunnens und schloß die Augen. Mir dröhnten die Ohren, und mein Gesicht war schweißüberströmt. Ich wollte mich an irgend etwas festhalten, aber es war nichts zum Festhalten da. Ich verspürte Brechreiz, aber es war nichts in mir, was ich hätte erbrechen können. Ich atmete ein paarmal tief durch, in der Hoffnung, wenn ich frische Luft in meinen Körper ließ und meinen Kreislauf in Schwung brachte, würden auch meine Gedanken etwas klarer werden, aber der Nebel in meinem Geist wollte sich nicht lichten. Mein Körper ist jetzt ganz schwach, dachte ich, ja, ich versuchte, es laut auszusprechen - »Mein Körper ist jetzt ganz schwach« -, aber mein Mund schaffte es kaum, die

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