Mister Aufziehvogel
etwas wirklich Grundlegendes falsch gemacht. Um darüber nachzudenken, bin ich hergekommen.«
May Kasahara sagte nichts. Ich schluckte einmal.
»Ich weiß nicht, ob du das nachvollziehen kannst: Als wir heirateten, vor sechs Jahren, versuchten wir, uns eine brandneue Welt zu schaffen - wie wenn man auf einem leeren Grundstück ein neues Haus baut. Wir hatten eine ganz klare Vorstellung von dem, was wir wollten. Solange wir nur Zusammensein konnten, brauchten wir kein tolles Haus oder sonstwas, nur einen Schutz vor dem Wetter. Darüber hinaus brauchten wir nichts. Besitz hätte nur gestört. Es kam uns alles so einfach vor. Hast du je dieses Gefühl gehabt - daß du an einen völlig anderen Ort gehen und jemand vollkommen anderes werden möchtest?«
»Klar«, sagte May Kasahara. »Das Gefühl hab ich andauernd.«
»Na ja, und das haben wir eben versucht zu tun, als wir heirateten. Ich wollte aus mir raus: aus dem Ich heraus, das bis dahin existiert hatte. Und mit Kumiko war’s das gleiche. In unserer neuen Welt versuchten wir, uns neue Ichs zuzulegen, die besser zu dem passen würden, was wir tief in unserem Inneren waren. Wir glaubten, wir könnten auf eine Weise leben, die genauer zu den Individuen paßte, die wir waren.«
Anscheinend verlagerte May Kasahara ihren Schwerpunkt im Licht ein wenig; ich spürte ihre Bewegung. Sie schien darauf zu warten, daß ich weiterredete, aber im Moment hatte ich nichts mehr zu sagen. Mir fiel nichts ein. Der Klang meiner Stimme im Betonrohr des Brunnens hatte mich ermüdet. »Kannst du damit irgend etwas anfangen?« fragte ich. »Klar doch.«
»Und was hältst du davon?«
»Also bitte, ich bin schließlich noch nicht erwachsen. Ich hab keinen Schimmer von der Ehe. Ich weiß nicht, was sich Ihre Frau dabei gedacht hat, als sie angefangen hat, mit einem anderen Mann rumzumachen, oder als sie Sie verlassen hat. Aber nach dem, was Sie mir grad erzählt haben, würd ich sagen, daß Sie irgendwie von vornherein eine falsche Vorstellung hatten. Wissen Sie, was ich meine, Mister Aufziehvogel? Wovon Sie grad geredet haben … ich weiß nicht, in echt kriegt das niemand hin. Ich mein, so Sachen wie ›Okay, jetzt schaff ich mir ne völlig neue Welt‹ oder ›Okay, jetzt schaff ich mir ein völlig neues Ich‹. Das ist jedenfalls meine Meinung. Man glaubt vielleicht, daß man sich eine neue Welt oder ein neues Ich geschaffen hat, aber das alte Ich ist die ganze Zeit weiter da, direkt unter der Oberfläche, und da braucht nur irgendwas zu passieren, und schwupp, steckt es den Kopf raus und sagt: ›Hallo.‹ Das scheint Ihnen irgendwie nicht klar zu sein. Sie sind irgendwo anders geschaffen worden. Und selbst diese Idee, die Sie da haben, sich selbst neu zu schaffen: Selbst die ist woanders entstanden. Soviel weiß selbst ich, Mister Aufziehvogel. Sie sind doch ein Erwachsener, oder? Wie kommt’s, daß Sie das nicht kapieren? Das ist ein ernstes Problem, wenn Sie mich fragen. Und genau dafür werden Sie bestraft - von allen möglichen Dingen: von der Welt, die Sie versucht haben loszuwerden, oder vom Ich, das Sie versucht haben loszuwerden. Verstehen Sie, was ich sagen will?«
Ich schwieg und starrte in die Dunkelheit, die meine Füße umgab. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte.
»Okay, Mister Aufziehvogel«, sagte sie leise. »Jetzt denken Sie mal schön. Denken Sie. Denken Sie.«
Der Deckel schob sich an seinen Platz, und die Brunnenöffnung war wieder verschlossen.
Ich holte die Feldflasche aus dem Rucksack und schüttelte sie. Das leise Gluckern hallte in der Dunkelheit; vielleicht noch viertel voll. Ich lehnte den Kopf an die Wand und schloß die Augen. May Kasahara hatte wahrscheinlich recht. Diese Person, dieses Selbst, dieses Ich war irgendwo anders geschaffen worden. Alles kam von woandersher, und es würde woanders hingehen. Ich war lediglich eine Schleuse für die Person namens »Ich«.
So viel weiß selbst ich, Mister Aufziehvogel. Wie kommt’s, daß Sie das nicht kapieren?
11
H UNGER ALS SCHMERZ
KUMIKOS LANGER BRIEF
VOGEL ALS PROPHET
Ich schlief ein paarmal ein und wachte ebensooft wieder auf. Es waren kurze, unruhige Schlafschübe, wie im Flugzeug. Jedesmal, wenn der Tiefschlaf kommen wollte, schreckte ich davor zurück und wachte auf; jedesmal, wenn das volle Wachbewußtsein kommen wollte, nickte ich wieder ein, in endloser Wiederholung. So ohne jeden Lichtwechsel eierte die Zeit dahin wie ein Karren mit ausgeschlagener Achse. Meine verkrampfte,
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