Mister Aufziehvogel
unnatürliche Haltung raubte meinem Körper die Ruhe. Bei jedem Aufwachen sah ich auf die Uhr. Die Zeit schleppte sich mit schwerem, ungleichmäßigem Schritt dahin.
Da ich nichts Besseres zu tun hatte, nahm ich immer wieder die Taschenlampe und richtete ihren Strahl wahllos irgendwohin - auf den Boden, auf die Schachtwand, auf die Brunnenabdeckung. Was ich da sah, war immer derselbe Boden, dieselbe Wand, dieselbe Brunnenabdeckung. Die Schatten, die der wandernde Lichtstrahl warf, schwankten, streckten sich und schrumpften, schwollen an und zogen sich zusammen. Wenn ich davon genug hatte, vertrieb ich mir die Zeit damit, daß ich mein Gesicht abtastete, jeder Linie und Furche nachging, meine Züge neu erforschte und versuchte, mir ihre Form einzuprägen. Bis dahin hatte ich mich nie für die Form meiner Ohren interessiert. Wenn mich jemand aufgefordert hätte, meine Ohren zu zeichnen - oder auch nur grob zu skizzieren -, wäre ich ratlos gewesen. Jetzt hingegen hätte ich jede Vertiefung und Windung präzise wiederzugeben vermocht. Ich fand es merkwürdig, wie verschieden die zwei Ohren waren; ich hatte keine Ahnung, woran das lag und welche Auswirkung dieser Mangel an Symmetrie haben mochte (’irgendeine Auswirkung hatte er wahrscheinlich).
Meine Uhr zeigte sieben Uhr achtundzwanzig. Seit ich hier unten war, mußte ich an die zweitausendmal auf die Uhr gesehen haben. Jetzt war es sieben Uhr achtundzwanzig abends, soviel war sicher; bei einem Ballspiel wäre es jetzt Ende des dritten oder Anfang des vierten Viertels. Als Kind saß ich oft hoch oben auf der Außenfeldtribüne und sah dem Sommertag zu, wie er versuchte, nicht zu Ende zu gehen. Die Sonne war hinter dem westlichen Horizont verschwunden, aber das Abendrot war noch strahlend und schön. Die Scheinwerfer warfen ihre langen Schatten über das Spielfeld, als wollten sie auf etwas hinweisen. Kurz nachdem das Spiel angefangen hatte, wurde mit äußerster Behutsamkeit erst ein, dann ein zweiter Scheinwerfer eingeschaltet. Dennoch kam vom Himmel noch soviel Licht, daß man hätte Zeitung lesen können. Die Erinnerung an des langen Tages Glanz blieb an der Tür stehen, um der Sommernacht den Zutritt zu verwehren. Doch geduldig und beharrlich errang die künstliche Beleuchtung allmählich ihren lautlosen Sieg über das Sonnenlicht und zauberte eine Flut festlicher Farben hervor. Das leuchtende Grün des Spielfelds, die schöne schwarze Erde, die frisch darauf gezeichneten weißen Linien, der schimmernde Klarlack an den Schlägern von Spielern, die darauf warteten, ihren Platz auf der Gummiplatte einzunehmen, der Zigarettenrauch, der in die Lichtbalken stieg (und an windstillen Tagen aussah, als wären wandernde Seelen auf der Suche nach jemandem, der sie einlassen würde) - all dies zeichnete sich nach und nach mit überwältigender Klarheit ab. Die jungen Bierverkäufer hoben ihre Hände ins Licht und ließen zwischen ihre Finger gesteckte Banknoten aufleuchten. Die Zuschauer erhoben sich von den Bänken, um die Bahn eines hohen Flugballs zu verfolgen, und ihre Stimmen flogen mit ihm auf in den Himmel oder zerflossen zum Seufzen. Kleine Vogelschwärme zogen, unterwegs zu ihren Schlafplätzen, seewärts vorüber. Das war das Stadion abends um halb acht.
Ich dachte an die Baseballspiele, die ich im Laufe der Jahre gesehen hatte. Einmal, als ich noch klein war, waren die Saint Louis Cardinals zu einem Freundschaftsspiel nach Japan gekommen. Das hatte ich mit meinem Vater von einem Innenfeldplatz aus gesehen. Vor dem Spiel hatten sich die Cardinals mit Körben voll signierter Tennisbälle entlang der Außenlinie aufgestellt und die Bälle, so fest sie konnten, in die Tribünen geschleudert. Die Zuschauer hatten alle wie verrückt versucht, einen für sich zu ergattern, aber ich war einfach auf meinem Platz geblieben, ohne mich zu rühren, und ehe ich mich versah, hatte ich einen Ball auf dem Schoß gehabt. Es war ein magisches Ereignis gewesen: seltsam und unerwartet. Ich sah wieder auf die Uhr. Sieben Uhr sechsunddreißig. Seit dem letzten Nachsehen waren acht Minuten vergangen. Nur acht Minuten. Ich nahm mir die Uhr vom Handgelenk und hielt sie ans Ohr. Sie tickte einwandfrei. Ich zuckte in der Dunkelheit die Schultern; mein Zeitgefühl spielte mir allmählich komische Streiche. Ich beschloß, eine Weile nicht mehr auf die Uhr zu sehen. Vielleicht hatte ich nichts anderes zu tun, aber so oft auf die Uhr zu sehen war nicht gesund. Trotzdem kostete es mich
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