Mister Aufziehvogel
den Brunnen fallen lassen. Aber ich würde nicht wieder aufwachen. Dann würde sie begreifen, daß ich tot war.
Ich wollte um Hilfe rufen. Ich wollte schreien, daß ich hier drinnen eingesperrt war. Daß ich Hunger hatte. Daß die Luft immer schlechter wurde. Ich fühlte mich so, als sei ich wieder zum hilflosen kleinen Kind geworden. Ich war aus einer Laune heraus fortgelaufen und würde nie wieder nach Hause finden. Ich hatte den Weg vergessen. Das war ein Traum, den ich schon unzählige Male gehabt hatte. Es war der Alptraum meiner Jugend gewesen - mich zu verirren, den Weg zurück nach Hause nicht mehr zu finden. Ich hatte diese Alpträume seit Jahren völlig vergessen. Aber jetzt, auf dem Grund dieses tiefen Brunnens, wurden sie wieder grauenvoll lebendig. Die Zeit verlief im Dunkeln rückwärts und wurde von einer andersgearteten Zeit verschlungen.
Ich holte die Feldflasche aus dem Rucksack, schraubte den Deckel auf und ließ mir - mit äußerster Vorsicht, um keinen einzigen Tropfen zu verschütten - eine kleine Menge Wasser in den Mund fließen. Lange behielt ich es dort, kostete die Feuchtigkeit aus und schluckte es dann so langsam wie nur möglich. Als mir das Wasser durch die Kehle rann, drang ein lautes Geräusch daraus hervor, als sei ein harter, schwerer Gegenstand zu Boden gefallen, aber es war nur das Geräusch, das ich erzeugte, als ich ein paar Tropfen Wasser schluckte.
»Herr Okada!«
Jemand rief mich. Ich hörte die Stimme im Schlaf. »Herr Okada! Herr Okada! Bitte wachen Sie auf!«
Es klang wie Kreta Kano. Ich schaffte es, die Augen zu öffnen, aber das änderte nichts. Ich war noch immer von Dunkelheit umgeben und konnte nicht das mindeste sehen. Es gab keine klare Grenze zwischen Schlaf und Wachsein. Ich versuchte, mich aufzurichten, aber ich hatte nicht genügend Kraft in den Fingern. Mein Körper fühlte sich kalt und stumpf an, verschrumpelt wie eine Gurke, die man zu lange hinten im Kühlschrank vergessen hat. Mein Denken war eng umhüllt von Erschöpfung und Schwäche. Ist mir egal, mach, was du willst, dann kriege ich eben wieder im Geist einen Ständer und komme in der Wirklichkeit. Na los, wenn du das wirklich willst. Benebelt wartete ich darauf, daß ihre Hände meinen Gürtel lösten. Aber Kreta Kanos Stimme kam von irgendwo weit oben. »Herr Okada! Herr Okada!« rief sie. Ich schaute nach oben und sah, daß die Brunnenabdeckung zur Hälfte geöffnet war und darüber ein schöner besternter Himmel glitzerte, ein Himmel in der Form eines Halbmondes.
»Ich bin hier!«
Ich richtete mich auf und schaffte es, auf die Füße zu kommen. Ich sah nach oben und rief noch einmal: »Ich bin hier!«
»Herr Okada!« sagte die wirkliche Kreta Kano. »Sind Sie da unten?«
»Ja, ich bin hier!«
»Wie ist denn das passiert?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Es tut mir leid, ich kann Sie nicht besonders gut hören. Könnten Sie etwas lauter sprechen?«
»Das ist eine lange Geschichte!« rief ich. »Ich erzähl sie Ihnen, sobald ich hier raus bin. Im Augenblick kann ich nicht sehr laut reden.«
»Ist das Ihre Strickleiter hier oben?«
»Ja.«
»Wie haben Sie die nur hier hinaufbekommen? Haben Sie sie geworfen?«
»Natürlich nicht!« Warum hätte ich so etwas tun sollen? Wie hätte ich so etwas tun können? »Natürlich nicht! Jemand hat sie raufgezogen, ohne mir was davon zu sagen.«
»Aber damit wäre es für Sie unmöglich geworden, wieder herauszukommen!«
»Natürlich«, sagte ich so geduldig, wie ich konnte. »Genau das ist ja auch passiert.
Ich kann hier nicht raus. Würden Sie mir also einen Gefallen tun und die Leiter herunterlassen? Dann kann ich raus.«
»Ja, natürlich. Sofort.«
»Moment mal! Bevor Sie sie runterlassen, könnten Sie nachsehen, ob sie auch am Baumstamm befestigt ist? Sonst -«
Aber sie gab keine Antwort. Es schien niemand mehr da zu sein. Ich starrte so konzentriert wie nur möglich auf die Brunnenöffnung, aber ich sah niemanden.
Ich holte die Taschenlampe aus dem Rucksack und richtete ihren Strahl nach oben, aber das Licht erfaßte keine menschliche Gestalt. Was es allerdings sichtbar werden ließ, war die Strickleiter: Sie hing da, wo sie hingehörte, als wäre sie die ganze Zeit da gewesen. Ich stieß einen tiefen Seufzer aus, und dabei spürte ich, wie ein harter Knoten im Innersten meines Körpers sich lockerte und dahinschmolz.
»Hallo! Kreta Kano!« schrie ich, aber es kam weiterhin keine Antwort. Meine Uhr zeigte sieben nach eins.
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