Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
schätze, irgendwie verrückt ist’s schon«, sagte ich. »Aber ich hab die ganze Zeit an andere Dinge gedacht. Wenn ich erst mal richtig Hunger habe, werd ich wahrscheinlich auch über den Tod nachdenken. Ich hab schließlich noch drei Wochen Zeit, bis ich sterbe, richtig?«
    »Wenn Sie Wasser haben«, sagte May Kasahara. »So war das bei diesem Russen. Der war irgendein Großgrundbesitzer oder so. Die Rote Garde hat ihn in einen alten Bergwerksschacht geworfen, aber da sickerte Wasser durch die Wand, und das hat er aufgeleckt, und so ist er am Leben geblieben. Er saß in völliger Dunkelheit, genau wie Sie. Aber Sie haben nicht besonders viel Wasser, nicht?«
    »Nein«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Ist nur noch ein bißchen übrig.«
    »Dann sollten Sie besser sparsam damit umgehen«, sagte May Kasahara. »Trinken Sie kleine Schlückchen. Und denken Sie in aller Ruhe nach. Über den Tod. Darüber, daß Sie am Sterben sind. Sie haben ja noch viel Zeit.«
    »Warum liegt dir eigentlich so viel daran, daß ich über den Tod nachdenke? Was hast du davon?«
    »Nix hab ich davon«, gab May Kasahara scharf zurück. »Wie kommen Sie darauf, daß ich was davon haben könnte, daß Sie über Ihren Tod nachdenken? Es ist Ihr Leben. Es hat nichts mit mir zu tun. Ich bin bloß … interessiert.«
    »Aus Neugier?«
    »Ja. Aus Neugier zu erfahren, wie Menschen sterben. Was das für ein Gefühl ist zu sterben. Darauf bin ich neugierig.«
    May Kasahara verstummte. Als das Gespräch abbrach, strömte tiefe Stille in den Raum um mich herum, als habe sie nur auf diese Gelegenheit gewartet. Ich hätte gern das Gesicht gehoben und nach oben geschaut. Um festzustellen, ob May Kasahara von hier unten aus zu sehen war. Aber das Licht war zu grell. Ich war mir sicher, es hätte mir die Augen ausgebrannt. »Es gibt da was, was ich dir sagen möchte«, sagte ich. »Okay. Schießen Sie los.«
    »Meine Frau hatte einen Liebhaber«, sagte ich. »Zumindest bin ich mir da ziemlich sicher. Ich hab nichts davon gemerkt, aber monatelang, während sie noch mit mir zusammenlebte, ging sie mit diesem Typ ins Bett. Ich konnte es anfangs gar nicht glauben, aber je mehr ich darüber nachgedacht habe, desto sicherer bin ich mir geworden. Im nachhinein erkenne ich jetzt, daß es alle möglichen kleinen Indizien gegeben hat. Sie kam zu den verrücktesten Uhrzeiten nach Hause, oder sie zuckte zusammen, wenn ich sie anfaßte. Aber ich war nicht imstande, die Zeichen zu deuten. Ich vertraute ihr. Ich habe nie gedacht, sie könnte ein Verhältnis haben. Ich bin einfach nicht auf die Idee gekommen.«
    »Stark«, sagte May Kasahara.
    »Also ist sie eines Tages einfach aus dem Haus gegangen und nicht mehr zurückgekommen. Wir haben an dem Morgen zusammen gefrühstückt, und sie ist aus dem Haus gegangen wie immer. Sie hatte nicht mehr bei sich als ihre Handtasche, und von der Reinigung hat sie noch einen Rock und eine Bluse abgeholt. Und das war’s. Kein Abschied. Keine zwei Zeilen. Nichts. Kumiko war weg. Hat alle ihre Sachen zurückgelassen - Kleider und alles. Und sie kommt wahrscheinlich nie wieder hierher zurück - zu mir zurück. Nicht freiwillig jedenfalls. Soviel weiß ich.«
    »Ist sie jetzt mit dem anderen Typ zusammen, Ihrer Ansicht nach?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte ich kopfschüttelnd. Als mein Kopf sich langsam durch die Luft bewegte, fühlte sie sich wie eine Art von schwerem Wasser an, abzüglich des wässerigen Gefühls. »Wahrscheinlich sind sie zusammen.«
    »Und jetzt sind Sie also am Boden zerstört, Mister Aufziehvogel, und deswegen sind Sie in den Brunnen gestiegen.«
    »Natürlich war ich am Boden zerstört, als ich begriffen habe, was los war. Aber deswegen bin ich nicht hier. Ich lauf nicht vor der Wirklichkeit weg. Ich brauchte, wie gesagt, einen Ort, wo ich allein sein und mich auf mein Denken konzentrieren konnte. Wo und wie ist meine Beziehung zu Kumiko schiefgelaufen? Das begreife ich eben nicht. Womit ich nicht behaupten will, bis dahin sei alles ideal gewesen. Ein Mann und eine Frau, beide zwischen zwanzig und dreißig, von sehr verschiedenem Naturell, lernen sich zufällig kennen und ziehen zusammen … Es gibt kein Ehepaar auf der Welt, das nicht sein Päckchen Probleme hätte, aber ich dachte, wir kämen im Prinzip gut miteinander aus, und was es an kleineren Problemen gab, würde sich mit der Zeit schon von selbst erledigen. Da habe ich mich jedoch getäuscht. Ich habe offenbar die ganze Zeit etwas Wichtiges übersehen,

Weitere Kostenlose Bücher