Mister Aufziehvogel
ich Selbstgespräche, murmelte Gedankensplitter vor mich hin, die mir gar nicht bewußt waren. Ich konnte nichts dagegen tun. Ich hörte meinen Mund Worte artikulieren, aber ich verstand so gut wie nichts von dem, was ich da sagte. Mein Mund bewegte sich von allein, automatisch, warf lange Wortketten in die Dunkelheit, Ketten von Wörtern, deren Bedeutung ich nicht zu fassen bekam. Sie kamen aus einer Dunkelheit hervor und wurden von der nächsten verschluckt. Mein Körper war nichts als ein leerer Tunnel, eine Rohrleitung zur Beförderung der Wörter von dort nach hier. Es waren zweifellos Fragmente von Gedanken, aber von Gedanken, die sich außerhalb meines Bewußtseins ereigneten.
Was war hier los? Gingen mir langsam die Nerven durch? Ich sah auf die Uhr. Sie zeigte drei Uhr zweiundvierzig. Wahrscheinlich drei Uhr zweiundvierzig am Nachmittag. Ich malte mir aus, wie das Licht an einem Sommernachmittag um drei Uhr zweiundvierzig aussah; ich sah mich selbst in diesem Licht. Ich spitzte die Ohren nach irgendwelchen Geräuschen, aber es gab keine: kein Zikadenzirpen, keinen Vogelgesang, keine Kinderstimmen. Vielleicht hatte der Aufziehvogel, während ich hier unten im Brunnen saß, die Feder nicht aufgezogen, und die Welt hatte aufgehört, sich zu bewegen. Nach und nach war das Federwerk abgelaufen, und an einem bestimmten Punkt hatte jegliche Bewegung - das Fließen der Flüsse, das Flirren des Laubs, der Flug der Vögel am Himmel - aufgehört.
Was trieb May Kasahara? Warum kam sie nicht? Sie hatte sich schon sehr lange nicht mehr blicken lassen. Mir schoß der Gedanke durch den Kopf, ihr könnte etwas Schlimmes zugestoßen sein - ein Verkehrsunfall etwa. Das hieße, daß es niemanden mehr auf der Welt gab, der wußte, daß ich hier unten war. Und daß ich auf dem Grund des Brunnens wirklich eines langsamen Todes sterben würde.
Ich beschloß, die Dinge anders zu sehen. May Kasahara war nicht so unvorsichtig. Sie würde sich nicht so einfach überfahren lassen. Sie war jetzt wahrscheinlich in ihrem Zimmer, spähte von Zeit zu Zeit mit ihrem Fernglas in diesen Garten herüber und stellte sich vor, wie ich hier unten im Brunnen saß. Sie tat das mit Absicht: ließ mir bewußt genug Zeit, Angst zu bekommen, mich verlassen zu fühlen. Das war meine Vermutung. Und wenn sie absichtlich so viel Zeit verstreichen ließ, dann hatte sie großen Erfolg mit ihrem Plan. Ich hatte wirklich Angst. Ich fühlte mich wirklich verlassen. Jedesmal, wenn es mir durch den Kopf ging, daß ich ohne weiteres hier im Dunkeln langsam verfaulen könnte, nahm mir die Angst buchstäblich den Atem. Je mehr Zeit verging, desto matter würde ich werden, bis meine Hungerkrämpfe stark genug wären, um mich zu töten. Doch ehe das geschähe, verlöre ich vielleicht die Fähigkeit, meine Bewegungen zu koordinieren. Selbst wenn jemand die Strickleiter herunterließe, würde ich es vielleicht nicht mehr schaffen hinaufzusteigen. Vielleicht würden mir alle Haare und Zähne ausfallen.
Dann fiel mir ein, ich sollte mir wegen der Luft Sorgen machen. Ich war mittlerweile seit zwei Tagen auf dem Grund dieser tiefen, engen Betonröhre, und obendrein war deren Öffnung dicht verschlossen. Eine Ventilation fand praktisch nicht statt. Auf einmal kam mir die Luft um mich herum schwer und drückend vor. Ich konnte nicht feststellen, ob die Phantasie mit mir durchging oder ob die Luft wirklich, des fehlenden Sauerstoffs wegen, drückend geworden war. Um das herauszufinden, machte ich mehrere tiefe Atemzüge, aber je tiefer ich atmete, desto schlimmer fühlte ich mich. Angstschweiß schoß mir aus allen Poren. Kaum hatte ich angefangen, mir über die Luft Gedanken zu machen, drängte sich der Tod als etwas Reales und unmittelbar Bevorstehendes in meine Seele. Wie stilles schwarzes Wasser stieg er höher und höher und sickerte in jeden Winkel meines Bewußtseins. Bisher hatte ich an die Möglichkeit des Hungertodes gedacht, und bis da wäre es noch lang hin gewesen. Viel schneller würde die Sache ablaufen, wenn mir der Sauerstoff ausging. Was würde das für ein Gefühl sein, zu ersticken? Wie lange würde es dauern?
Würde es ein langsamer, qualvoller Prozeß sein, oder würde ich allmählich das Bewußtsein verlieren und sterben, als schliefe ich ein? Ich stellte mir vor, wie May Kasahara zum Brunnen kam und mich tot vorfand. Sie würde ein paarmal zu mir hinunterrufen, und wenn keine Antwort kam, würde sie annehmen, ich schliefe, und ein paar Steinchen in
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