Mister Aufziehvogel
Worte zu formen. Wenn ich nur die Sterne sehen könnte, dachte ich, aber ich konnte keine Sterne sehen. May Kasahara hatte dem Brunnen den Mund verschlossen.
Ich nahm an, May Kasahara würde irgendwann im Laufe des Vormittags zum Brunnen zurückkommen, aber sie kam nicht. An die Wand gelehnt, verbrachte ich die ganze Zeit mit Warten darauf, daß sie erschien. Die Übelkeit verließ mich den ganzen Vormittag nicht, und mein Bewußtsein hatte nicht mehr die Kraft, sich auf einen beliebigen Gedanken zu konzentrieren, und sei es nur für kurze Zeit. Die Hungerkrämpfe kamen und gingen, die Dunkelheit, die mich umgab, wurde dichter und dünner, und mit jeder neuen Welle verschwand ein weiteres Stück meiner Konzentrationsfähigkeit wie die Einrichtung eines unbewohnten Hauses, die Einbrecher Stück für Stück hinausschaffen.
Der Mittag kam und ging, und May Kasahara tauchte nicht auf. Ich schloß die Augen und versuchte zu schlafen, in der Hoffnung, daß ich vielleicht von Kreta Kano träumen würde, aber mein Schlaf war für Träume zu flach. Nicht lange, nachdem ich jeden Versuch aufgegeben hatte, mich auf das Denken zu konzentrieren, begannen mich allerlei Erinnerungsfragmente heimzusuchen. Sie kamen lautlos an, wie Wasser, das eine unterirdische Höhle auffüllt. Orte, an denen ich gewesen war, Menschen, die ich kennengelernt hatte, Wunden, die ich empfangen hatte, Gespräche, die ich geführt, Dinge, die ich gekauft oder verloren hatte: ich konnte mich an all das sehr lebhaft und verblüffend detailliert erinnern. Ich dachte an Häuser und Wohnungen, in denen ich gewohnt hatte. Ich dachte an ihre Fenster und Schränke und Möbel und Lampen. Ich dachte an Lehrer und Professoren, die ich gehabt hatte, von der Grundschule bis zum College. Die wenigsten dieser Erinnerungen, wenn überhaupt welche, hingen irgendwie miteinander zusammen. Sie waren akribisch genau und bedeutungslos und kamen ohne jede chronologische Ordnung. Gelegentlich unterbrach eine weitere peinigende Welle von Hunger meine Reminiszenzen; aber jede einzelne Erinnerung war unglaublich lebhaft und erschütterte mich körperlich mit der Gewalt eines Tornados. Ich saß so da und sah meinem Bewußtsein bei seiner Erinnerungstätigkeit zu, bis es einen Zwischenfall wiedererstehen ließ, der sich drei, vier Jahre zuvor in der Kanzlei zugetragen hatte. Es war ein dummer, unsinniger Vorfall gewesen, aber je mehr Zeit ich damit zubrachte, mir seine absurden Details zu vergegenwärtigen, desto ärgerlicher wurde ich, bis die Verärgerung in regelrechte Wut umschlug. Die Wut, die mich packte, war so heftig, daß sie alles übrige auslöschte - meine Erschöpfung, meinen Hunger, meine Ängste - und ich anfing zu beben und zu keuchen. Mein Herz hämmerte hörbar, und die Wut überschwemmte meinen Kreislauf mit Adrenalin. Es war ein Streit gewesen, der mit einem belanglosen Mißverständnis begonnen hatte. Der andere Typ hatte mir ein paar Unverschämtheiten an den Kopf geworfen, und ich hatte ihm meinerseits die Meinung gesagt, aber dann hatten wir beide erkannt, wie unbedeutend die ganze Sache war, und hatten uns entschuldigt, womit die Angelegenheit erledigt gewesen war. Solche Sachen passieren eben: Man ist im Streß, man ist müde, und da rutscht einem ein unbedachtes Wort heraus. Ich hatte die ganze Sache einfach vergessen. Aber da unten im pechschwarzen Dunkel des Brunnens, fernab von der Wirklichkeit, erwachte die Erinnerung mit brennender Eindringlichkeit wieder zum Leben. Ich konnte ihre Hitze an meiner Haut spüren, hören, wie sie mein Fleisch brutzeln ließ. Warum hatte ich auf eine so empörende Bemerkung mit so schwächlichen Worten reagiert? Jetzt fiel mir plötzlich alles ein, was ich dem Kerl hätte sagen sollen. Ich feilte an meiner Replik, wetzte sie, und je schärfer sie wurde, desto mehr geriet ich in Rage.
Dann verschwand der Dämon, von dem ich besessen gewesen war, mit einem Mal und all das wurde bedeutungslos. Warum mußte ich solche uralten Erinnerungen wieder aufwärmen? Wozu sollte das gut sein? Der andere hatte den ganzen Streit wahrscheinlich längst vergessen. Ich hatte ihn bis zu diesem Moment ganz gewiß vergessen. Ich atmete tief durch, ließ die Schultern hängen und den Körper in die Dunkelheit zurücksinken. Ich versuchte, mich einer anderen Erinnerung zuzuwenden, aber mit dieser brennenden Wut war auch mein Vorrat an Gedächtnisbildern aufgebraucht. Mein Kopf war nun so leer wie mein Magen. Und ehe ich mich versah, führte
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