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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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logisch unanfechtbar sein, aber es bringt uns keinen Schritt weiter«, sagte ich. »Wo haben Sie Ihre Schuhe und Kleider verloren, und wie sind Sie von dort hierhergekommen?« Kreta Kano schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung«, sagte sie.
     
    Während sie an der Spüle stand und konzentriert das Geschirr spülte, blieb ich am Küchentisch sitzen und dachte über das Ganze nach. Natürlich hatte ich genausowenig eine Ahnung.
    »Passiert Ihnen so was häufig - daß Sie sich nicht mehr erinnern können, wo Sie gewesen sind?« fragte ich.
    »Es ist nicht das erste Mal, daß mir so etwas passiert ist - daß ich mich nicht erinnern kann, wo ich gewesen bin oder was ich getan habe. Es geschieht nicht häufig, aber von Zeit zu Zeit schon. Einmal habe ich auch ein paar Kleidungsstücke verloren. Aber dies ist das erstemal, daß ich meine gesamte Kleidung und meine Schuhe und alles verloren habe.«
    Kreta Kano drehte das Wasser ab und wischte mit einem Geschirrtuch über den Tisch.
    »Übrigens, Kreta Kano«, sagte ich, »Sie haben mir ihre Geschichte noch gar nicht zu Ende erzählt. Letztes Mal waren Sie gerade mittendrin, als Sie verschwunden sind. Wissen Sie noch? Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich gern den Rest auch noch hören. Sie haben mir erzählt, wie Sie in die Hände der Gangster geraten sind und als Prostituierte für sie arbeiten mußten, aber Sie haben mir nicht erzählt, was passiert ist, nachdem Sie Noboru Wataya kennengelernt und mit ihm geschlafen haben.«
    Kreta Kano lehnte sich an die Spüle und sah mich an. Wassertropfen rannen ihr die Finger hinab und fielen auf den Fußboden. Ihre Brustwarzen zeichneten sich deutlich durch das weiße T-Shirt ab und weckten in mir eine lebhafte Erinnerung an den nackten Körper, den ich vergangene Nacht gesehen hatte. »Also gut. Ich erzähle Ihnen alles, was danach passierte. Jetzt gleich.« Kreta Kano setzte sich wieder mir gegenüber an den Tisch. »Daß ich mitten in meiner Geschichte gegangen bin, Herr Okada, lag daran, daß ich an dem Tag noch nicht bereit war, alles zu erzählen. Ich hatte meine Geschichte angefangen, weil ich wirklich der Überzeugung war, daß ich Ihnen so ehrlich wie möglich schildern sollte, was mir widerfahren ist. Dann aber fand ich mich außerstande, bis ganz zu Ende zu erzählen. Sie müssen schockiert gewesen sein, als ich so plötzlich verschwand.«
    Kreta Kano legte die Hände auf den Tisch und sah mich offen an, während sie sprach.
    »Na ja, schockiert war ich schon, obwohl … es nicht das Schockierendste war, was mir in letzter Zeit passiert ist.«
     
    »Wie ich Ihnen schon sagte, war der allerletzte Freier, den ich als Prostituierte des Körpers hatte, Noboru Wataya. Als ich ihn dann zum zweiten Mal traf, als Malta Kanos Klienten, erkannte ich ihn sofort wieder. Es wäre mir unmöglich gewesen, ihn zu vergessen. Ob er sich auch an mich erinnerte, kann ich nicht sagen. Herr Wataya ist kein Mensch, der seine Gefühle zeigt.
    Aber lassen Sie mich die Dinge in der richtigen Reihenfolge darstellen. Zunächst werde ich Ihnen erzählen, wie ich Noboru Wataya als Freier hatte. Das war vor rund sechs Jahren.
    Wie ich Ihnen schon sagte, befand ich mich damals in einem Zustand, in dem ich keinerlei Wahrnehmung von Schmerz hatte. Und nicht nur von Schmerz: Ich hatte überhaupt keine Sinneswahrnehmungen. Ich lebte in einer abgrundtiefen Betäubung. Natürlich will ich damit nicht sagen, ich sei buchstäblich außerstande gewesen, irgend etwas sinnlich wahrzunehmen - ich wußte schon, wenn etwas warm oder kalt war oder Schmerz verursachte. Aber diese Sinneseindrücke erreichten mich gewissermaßen aus der Ferne, aus einer Welt, die nichts mit mir zu tun hatte. Darum widerstrebte es mir auch nicht, für Geld mit Männern sexuell zu verkehren. Was mir jemand auch antun mochte, die Empfindungen, die ich hatte, gehörten nicht zu mir. Mein empfindungsloser Körper war nicht mein Körper. Jetzt lassen Sie mich überlegen - ich habe Ihnen schon erzählt, daß ich von Gangstern in den Prostitutionsring gepreßt wurde. Wenn sie mir sagten, ich solle mit Männern schlafen, tat ich es, und wenn sie mir Geld gaben, nahm ich es. So weit war ich gekommen.« Ich nickte ihr zu.
    »An dem Tag sagten sie mir, ich solle mich in ein bestimmtes Zimmer im fünfzehnten Stock eines Hotels in der City begeben. Der Freier hatte den ungewöhnlichen Namen Wataya. Ich klopfte an die Tür, trat über die Schwelle und sah den Mann auf dem Sofa sitzen. Er

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