Mister Aufziehvogel
Ich hatte absolut keine Ahnung, was es war. Es war schon immer in mir gewesen, und doch war es etwas, wovon ich nichts gewußt hatte. Dieser Mann hatte es aus mir hervorgeholt.
Ich wollte wissen, was es war. Ich wollte es mit meinen eigenen Augen sehen. Es war schließlich ein Teil von mir, und ich hatte ein Recht, es zu sehen. Aber das war unmöglich. Ich wurde von der Sturzflut von Wollust und Schmerz fortgerissen. Auf reine Körperlichkeit reduziert, konnte ich nur noch schreien und sabbern und haltlos mit den Hüften kreisen. Sogar die Augen zu öffnen, war mir unmöglich. Dann erreichte ich den sexuellen Höhepunkt - wenngleich es sich eher anfühlte, als würde ich von einer hohen Klippe hinuntergestürzt. Ich schrie und hatte das Gefühl, jedes Stück Glas im Zimmer gehe in Scherben. Es war nicht nur ein Gefühl: Ich sah und hörte die Fensterscheiben und Trinkgläser in winzige Splitter zerspringen und fühlte sie auf mich herabregnen. Dann wurde mir entsetzlich übel. Mir schwand das Bewußtsein, und mein Körper erkaltete. Ich weiß, es muß merkwürdig klingen, aber ich fühlte mich, als sei ich zu einem Napf kalten Haferbreis geworden - ganz klebrig und klumpig, und die einzelnen Klumpen pochten, langsam und maßlos, mit jedem Schlag meines Herzens. Ich erkannte dieses Pochen wieder: ich hatte es schon früher erlebt. Und ich brauchte auch nicht lang, um mich zu entsinnen. Ich erkannte darin jenen dumpfen, tödlichen, niemals endenden Schmerz wieder, den ich vor meinem mißglückten Selbstmordversuch unablässig gespürt hatte. Und, wie eine Brechstange, war der Schmerz dabei, den Deckel meines Bewußtseins aufzustemmen - ihn mit unwiderstehlicher Gewalt aufzustemmen und den zu Gallert gewordenen Inhalt meines Gedächtnisses hervorzuzerren, ohne jegliche Beteiligung meines Willens. So seltsam es klingen mag, es war, als sähe eine Tote ihrer eigenen Autopsie zu. Verstehen Sie? Mir war, als sähe ich von einem erhöhten Punkt aus zu, wie mein Körper aufgeschnitten und ein schleimiges Organ nach dem anderen aus mir herausgezogen wurde. Ich blieb weiter liegen, ins Kissen sabbernd, von Krämpfen geschüttelt und außerstande, meine Ausscheidungen zurückzuhalten. Ich wußte, ich sollte versuchen, mich zu beherrschen, aber ich hatte jegliche Herrschaft über mich verloren. Jede Schraube in meinem Körper hatte sich nicht nur gelöst, sondern war auch herausgefallen. Mit meinem umnebelten Hirn erkannte ich in unglaublicher Klarheit, wie allein und wie ohnmächtig ich wirklich war. Alles kam aus mir hervorgesprudelt. Konkrete wie immaterielle Dinge wurden zu Flüssigkeit und flossen wie Speichel oder Urin aus meinem Fleisch heraus. Ich wußte, ich hätte es nicht zulassen, nicht erlauben dürfen, daß mein ureigenstes Selbst auf diese Weise vergossen wurde und für immer verlorenging, aber ich hatte keine Möglichkeit den Ausfluß zu stillen. Ich konnte nur zusehen, wie es geschah. Ich habe keine Ahnung, wie lang es so weiterging. Es war, als seien all meine Erinnerungen, all mein Bewußtsein ausgelaufen. Alles, was in mir gewesen war, war jetzt außerhalb von mir. Zuletzt fiel Dunkelheit wie ein schwerer Vorhang herab und hüllte mich ein. Und als ich das Bewußtsein wiedererlangte, war ich ein anderer Mensch.« Hier verstummte Kreta Kano und sah mich an. »Das also ist damals geschehen«, sagte sie leise. Ich sagte nichts. Ich wartete auf den Rest ihrer Geschichte.
14
K RETA KANOS NEUER AUFBRUCH
Kreta Kano fuhr mit ihrer Geschichte fort.
»Danach fühlte ich mich ein paar Tage lang so, als sei mein Körper zerfallen. Wenn ich ging, hatte ich nicht das Gefühl, daß meine Füße tatsächlich den Boden berührten. Wenn ich aß, hatte ich nicht das Gefühl, tatsächlich etwas zu kauen. Wenn ich stillsaß, hatte ich das entsetzliche Gefühl, daß mein Körper entweder unaufhaltsam hinabstürzte oder an einem riesigen Ballon unaufhaltsam emporschwebte in den unendlichen Raum. Ich war nicht mehr imstande, die Bewegungen oder Empfindungen meines Körpers mit meinem Ich in Verbindung zu bringen. Sie ereigneten sich nach eigenem Gutdünken, ohne Rücksicht auf meinen Willen, ohne Ordnung oder Ausrichtung. Und dennoch wußte ich keinen Weg, Ruhe in dieses Chaos zu bringen. Ich konnte nur darauf warten, daß sich mit der Zeit alles von selbst wieder legen würde. Ich blieb von morgens bis abends in meinem Zimmer eingeschlossen, aß kaum etwas und erzählte meiner Familie lediglich, ich fühlte mich nicht
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