Mister Aufziehvogel
ich zum Waschbecken gehen und mir kaltes Wasser ins Gesicht spritzen. Kurz darauf sah ich zu Kreta Kano hinein. Sie schlief noch immer fest. Sie hatte sich die Decke bis zur Taille hinuntergeschoben. Von da, wo ich stand, sah ich nur ihren Rücken. Er erinnerte mich an Kumikos Rücken, so wie ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Jetzt, wo ich darüber nachdachte, wurde mir bewußt, daß Kreta Kanos Figur der von Kumiko verblüffend ähnelte. Diese Ähnlichkeit war mir bisher nur deswegen nicht aufgefallen, weil ihre Haare, und ihr Kleidergeschmack und ihre Weise, sich zu schminken, so grundverschieden waren. Sie waren von gleicher Größe und hatten anscheinend ungefähr das gleiche Gewicht. Wahrscheinlich trugen sie dieselbe Konfektionsgröße.
Ich nahm meine eigene Sommerdecke mit ins Wohnzimmer, legte mich aufs Sofa und schlug mein Buch auf. Es war ein historisches Werk, das ich aus der Bücherei ausgeliehen hatte. Es handelte von der japanischen Verwaltung der Mandschurei vor dem Krieg und der Schlacht gegen die Sowjets bei Nomonhan. Leutnant Mamiyas Geschichte hatte mein Interesse an den Ereignissen auf dem Kontinent während dieser Periode geweckt, und ich hatte mir mehrere Bücher zu dem Thema ausgeliehen. Jetzt allerdings hatte ich mich noch keine zehn Minuten in die detailreiche Darstellung vertieft, als ich schon am Einschlafen war. Ich legte das Buch auf den Fußboden, um meine Augen ein paar Sekunden lang auszuruhen, aber ich versank noch bei brennendem Licht in tiefen Schlaf. Ein Geräusch aus der Küche weckte mich. Als ich nachsehen ging, fand ich dort Kreta Kano vor, die gerade das Frühstück vorbereitete. Sie trug ein weißes T-Shirt und blaue Shorts; beides von Kumiko.
»Wo sind Ihre Sachen?« fragte ich von der Tür aus.
»Ach, es tut mir leid. Sie haben noch geschlafen, da habe ich mir erlaubt, etwas von der Garderobe Ihrer Frau auszuleihen. Ich weiß, das war schrecklich dreist von mir, aber ich hatte nichts anzuziehen«, sagte Kreta Kano, ohne mir mehr als das Gesicht zuzuwenden. In der Zwischenzeit hatte sie wieder ihr gewohntes Aussehen angenommen, mit Frisur und Make-up im Stil der sechziger Jahre; nur die falschen Wimpern fehlten.
»Nein, das ist kein Problem«, sagte ich. »Ich möchte nur wissen, was mit Ihren Sachen passiert ist.«
»Ich habe sie verloren«, sagte sie schlicht.
»Verloren?«
»Ja. Ich habe sie irgendwo verloren.«
Ich trat in die Küche und sah, an den Tisch gelehnt, zu, wie Kreta Kano ein Omelett zubereitete. Mit geschickten Bewegungen schlug sie Eier auf, fügte Gewürze hinzu und rührte das Ganze schaumig.
»Das heißt also, Sie sind nackt hergekommen?«
»Ja, das ist richtig«, sagte Kreta Kano, als sei das die natürlichste Sache von der Welt. »Ich war vollkommen nackt. Das wissen Sie doch, Herr Okada. Sie haben mich zugedeckt.«
»Stimmt schon«, murmelte ich. »Aber ich wüßte doch gern, wo und wie Sie Ihre Sachen verloren haben und wie Sie es geschafft haben, nackt hierherzukommen?«
»Das weiß ich ebensowenig wie Sie«, sagte Kreta Kano und rüttelte die Pfanne, um das Omelett zusammenzuklappen.
»Das wissen Sie ebensowenig wie ich«, wiederholte ich.
Kreta Kano ließ das Omelette auf einen Teller gleiten und garnierte es mit ein paar frisch gedünsteten Brokkoli-Röschen. Toast hatte sie auch gemacht, und sie stellte ihn zusammen mit dem Kaffee auf den Tisch. Ich holte die Butter, das Salz und den Pfeffer. Dann setzten wir uns wie ein frischverheiratetes Paar einander gegenüber an den Frühstückstisch.
In diesem Augenblick erinnerte ich mich an mein Mal. Kreta Kano hatte keinerlei Überraschung gezeigt, als sie mich angesehen hatte, und sie hatte mich auch nicht danach gefragt. Ich griff mir an die Stelle und spürte, daß sie, wie gehabt, ein wenig warm war.
»Tut das weh, Herr Okada?«
»Nein, überhaupt nicht«, sagte ich.
Kreta Kano sah mir eine Weile ins Gesicht. »Es sieht aus wie ein Mal«, sagte sie.
»Ich finde auch, daß es wie ein Mal aussieht«, sagte ich. »Ich überlege mir, ob ich es nicht besser einem Arzt zeigen sollte.«
»Mir kommt das nicht wie etwas vor, womit ein Arzt etwas anfangen könnte.«
»Sie könnten recht haben«, sagte ich. »Aber ich kann es nicht einfach ignorieren.«
Die Gabel in der Hand, dachte Kreta Kano einen Augenblick nach. »Wenn Sie Einkäufe oder andere Dinge zu erledigen haben, könnte ich das für Sie tun. Sie können zu Hause bleiben, so lange Sie mögen, wenn es Ihnen unangenehm ist,
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