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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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hatte sich offenbar vom Zimmerservice Kaffee bringen lassen und davon getrunken, während er ein Buch las. Er trug ein grünes Polohemd und eine braune Baumwollhose. Sein Haar war kurz geschnitten, und er trug eine Brille mit braunem Gestell. Vor ihm auf dem Couchtisch befanden sich seine Tasse, eine Kaffeekanne und das Buch. Er hatte offenbar sehr konzentriert gelesen: In seinen Augen war noch eine gewisse Erregung zu erkennen. Seine Gesichtszüge waren nicht weiter bemerkenswert, aber diese Augen strahlten eine Energie aus, die schon fast unheimlich war. Als ich sie zum ersten Mal sah, dachte ich für einen Augenblick, ich hätte mich im Zimmer geirrt. Aber ich hatte mich nicht geirrt. Der Mann forderte mich auf, hereinzukommen und die Tür abzuschließen.
    Noch vom Sofa aus ließ er den Blick wortlos über meinen Körper gleiten. Von Kopf bis Fuß. Das geschah fast immer, wenn ich zu einem Freier ins Zimmer trat. Die meisten Männer betrachteten mich abschätzend. Entschuldigen Sie die Frage, Herr Okada, aber haben Sie jemals eine Prostituierte gekauft?« Ich verneinte. »Es ist, als würden sie eine Ware begutachten. Es dauert nicht lange, bis man sich daran gewöhnt hat, so angesehen zu werden. Sie zahlen schließlich Geld für einen Körper, da ist es verständlich, daß sie die gelieferte Ware prüfen möchten. Aber dieser Mann sah mich auf andere Weise an. Er schien durch mein Fleisch hindurchzusehen, auf etwas jenseits davon. Sein Blick bereitete mir ein Unbehagen als wäre ich halb durchsichtig.
    Ich war vermutlich etwas verwirrt: Ich ließ meine Handtasche fallen. Als sie auf dem Fußboden aufschlug, machte sie ein Geräusch, aber ich war in einem so entrückten Zustand, daß ich mir vorübergehend kaum bewußt war, was ich getan hatte. Dann beugte ich mich hinunter, um die Tasche wieder aufzuheben. Die Schließe hatte sich beim Aufprall geöffnet, und ein paar meiner Kosmetika waren herausgefallen. Ich hob meinen Augenbrauenstift auf, meinen Lippenbalsam und ein Fläschchen Eau de Toilette und steckte alles wieder in meine Tasche. Er hielt diese Augen die ganze Zeit auf mich gerichtet.
    Als ich alle meine Sachen vom Fußboden aufgelesen und wieder in der Tasche verstaut hatte, forderte er mich auf, mich auszuziehen. Ich fragte ihn, ob ich vorher duschen dürfe, da ich ziemlich stark transpiriert hätte. Es war ein heißer Tag, und in der U-Bahn hatte ich geschwitzt. Er sagte, das störe ihn nicht. Er habe nicht viel Zeit. Er wolle, daß ich mich sofort ausziehe.
    Als ich nackt war, forderte er mich auf, mich bäuchlings auf das Bett zu legen, was ich auch tat. Er befahl mir, stillzuliegen, die Augen geschlossen zu halten und zu schweigen, solange ich nicht angesprochen würde.
    Er setzte sich völlig angezogen neben mich. Mehr tat er nicht: Er setzte sich hin. Er berührte mich mit keinem Finger. Er saß nur da und sah auf meinen nackten Körper herab. Dabei blieb es ungefähr zehn Minuten lang, während ich regungslos, Gesicht nach unten, dalag. Ich konnte spüren, wie sich seine Blicke mit fast schmerzhafter Intensität in meinen Nacken, meinen Rücken, mein Gesäß und meine Beine bohrten. Mir kam der Gedanke, er sei vielleicht impotent. Gelegentlich kommen solche Freier vor. Sie kaufen eine Prostituierte, lassen sie sich ausziehen und sehen sie an. Manche ziehen die Frau aus und machen es sich dann in ihrer Gegenwart selbst. Alle möglichen Männer gehen zu Prostituierten, aus allen möglichen Gründen. Ich nahm einfach an, er sei einer von diesen. Nach einer Weile aber streckte er die Hände aus und begann, mich zu berühren. Seine zehn Finger bewegten sich über meinen Körper, von den Schultern zum Rücken, vom Rücken zum Gesäß, als seien sie nach etwas auf der Suche. Das war kein Vorspiel. Ebensowenig war es natürlich eine Massage. Seine Finger bewegten sich mit äußerster Sorgfalt über meinen Körper, als zögen sie eine Route auf einer Landkarte nach. Und während er mein Fleisch berührte, schien er die ganze Zeit nachzudenken - nicht im landläufigen Sinne des Wortes, sondern mit größter Konzentration ernsthaft über irgend etwas nachzudenken. In der einen Minute schienen seine Finger ziellos hierhin und dorthin zu wandern, und in der nächsten hielten sie inne und blieben lange an einer bestimmten Stelle liegen. Es fühlte sich an, als kämen die Finger ganz von allein nach anfänglicher Unschlüssigkeil zur Gewißheit. Drücke ich mich verständlich aus? Jeder einzelne Finger schien

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