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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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erwägen, nach Kreta zu gehen?«
    »Nein. Ich habe ihr nichts davon gesagt, aber ich bin mir sicher, daß sie keine Einwände dagegen hätte. Sie wäre wahrscheinlich der Meinung, es würde mir guttun. Sie hat mich während der letzten fünf Jahre als Medium benutzt, aber das soll nicht heißen, daß sie mich lediglich aus genutzt hätte wie ein Werkzeug. Sie hat es auch getan, um mir bei meiner Genesung zu helfen. Sie glaubt, indem sie die Bewußtseine oder Ichs vieler verschiedener Menschen durch mich hindurchleitet, wird sie ermöglichen, daß ich ein sicheres Gefühl für mein eigenes Ich gewinne. Verstehen Sie? Es erschließt mir gewissermaßen mittelbar die Erfahrung, wie es sich anfühlt, ein selbstbestimmtes Ich zu haben.
    Wenn ich es mir recht überlege, habe ich noch nicht ein einzige Mal in meinem ganzen Leben zu jemandem klar gesagt: ›Ich will das und das tun.‹ Ja, ich habe nicht einmal je gedacht: ›Ich will das und das tun.‹ Vom Augenblick meiner Geburt an kreiste mein ganzes bewußtes Leben um den Schmerz. Mein einziger Lebenszweck bestand darin, einen Weg zu finden, mit heftigem Schmerz zu koexistieren. Und als ich zwanzig wurde und der Schmerz nach meinem Versuch, mich zu töten, verschwand, trat eine tiefe, tiefe Empfindungslosigkeit an dessen Stelle. Ich war wie eine wandelnde Leiche. Ich war von einem dichten Schleier aus Ungefühl umhüllt. Ich hatte nichts - keinen Funken - von dem, was man einen eigenen Willen hätte nennen können. Und dann, als Noboru Wataya meinen Körper schändete und meinen Geist aufbrach, erhielt ich mein drittes Ich. Aber selbst da war ich noch nicht ich selbst. Ich hatte nur erreicht, mir die notwendige Hülse für ein Ich anzueignen - nur ein Gefäß dafür. Und als ein Gefäß ließ ich, unter Malta Kanos Anleitung, viele Selbste durch mich hindurchgehen. So habe ich also die sechsundzwanzig Jahre meines Lebens verbracht. Stellen Sie sich das doch bitte vor: Sechsundzwanzig Jahre lang war ich nichts. Das ist die Erkenntnis, die mich wie ein Blitz durchfuhr, als ich allein im Brunnen saß und nachdachte. Während dieser langen Zeit, begriff ich, war die Person namens ›Ich‹ in Wirklichkeit überhaupt nichts gewesen. Ich war nichts als eine Prostituierte. Eine Prostituierte des Körpers. Eine Prostituierte des Geistes.
    Jetzt allerdings versuche ich, die bewußte Herrschaft über mein neues Ich zu gewinnen. Ich bin weder ein Gefäß noch ein Durchgangsmedium. Ich versuche, mich hier auf der Welt anzusiedeln.«
    »Ich verstehe, was Sie mir da sagen, aber warum wollen Sie mit mir nach Kreta fahren?«
    »Weil es für uns beide gut sein könnte: für Sie, Herr Okada, und für mich«, sagte Kreta Kano. »Zur Zeit besteht für keinen von uns beiden eine Notwendigkeit, hier zu sein. Und wenn dies so ist, wäre es besser für uns, nicht hier zu sein, meine ich. Sagen Sie, Herr Okada, haben Sie etwas Bestimmtes vor, das sie ausführen müssen - einen Plan, was Sie von nun an tun wollen?«
    »Das einzige, was ich tun muß, ist, mit Kumiko zu sprechen. Bevor wir uns nicht gegenüberstehen und sie mir sagt, daß unser gemeinsames Leben wirklich beendet ist, kann ich nichts anderes tun. Wie ich es allerdings anstellen soll, sie zu finden, ist mir noch schleierhaft.«
    »Aber wenn Sie sie finden und Ihre Ehe, wie Sie sagen, ›beendet‹ ist, würden Sie es dann in Betracht ziehen, mit mir nach Kreta zu fahren? Früher oder später müßten wir beide doch ohnehin etwas Neues beginnen«, sagte Kreta Kano und sah mir in die Augen. »Mir scheint, auf die Insel Kreta zu fahren, wäre kein schlechter Anfang.«
    »Ganz und gar nicht«, sagte ich. »Ein bißchen abrupt vielleicht, aber kein schlechter Anfang.«
    Kreta Kano lächelte mich an. Wenn ich es mir recht überlegte, war es das erste Mal überhaupt, daß sie das getan hatte. Es gab mir das Gefühl, daß sich die Weltgeschichte endlich doch ein wenig in die richtige Richtung zu bewegen begann. »Wir haben noch Zeit«, sagte sie. »Selbst wenn ich mich beeile, werde ich mindestens zwei Wochen für meine Vorbereitungen brauchen. Bitte, nutzen Sie diese Zeit, Herr Okada, um darüber nachzudenken. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen irgend etwas geben kann. Im Augenblick habe ich eher das Gefühl, ich hätte überhaupt nichts zu geben. Ich bin buchstäblich leer. Ich fange gerade erst an, dieses leere Gefäß nach und nach mit Inhalt zu füllen. Was ich Ihnen geben kann, Herr Okada, bin ich selbst - wenn Sie meinen, das genüge

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