Mister Aufziehvogel
sicher. Aber trotzdem, da war etwas gewesen, das sie mir nicht hatte sagen können. Und dieses Etwas hing untrennbar mit ihrem Entschluß zusammen, mich zu verlassen. Damit hatte alles angefangen. Aber worin das Geheimnis bestand, was da verheimlicht worden war - ich hatte nicht die leiseste Ahnung. Ich war der einzige, der verlassen worden war, der einzige, der im dunkeln tappte. Mit Sicherheit wußte ich nur eins: Solange ich es nicht schaffte, das Geheimnis um dieses Etwas zu lüften, würde Kumiko nicht zu mir zurückkehren. Allmählich spürte ich, wie sich eine stille Wut in meinem Körper staute, eine Wut auf dieses Etwas, das mir verborgen blieb. Ich reckte mich, atmete tief ein und beschwichtigte mein hämmerndes Herz. Dennoch breitete die Wut sich weiter aus und sickerte, wie Wasser, lautlos in jeden Winkel meines Körpers. Es war eine kummerdurchtränkte Wut. Es gab nichts, wogegen ich sie hätte schmettern können, nichts, was ich tun konnte, um sie zu verscheuchen.
Der Mann ging mit demselben gleichmäßigen Schritt immer weiter. Er überquerte die Gleise der Odakyu-Linie, durchquerte einen Block von Geschäften, einen shintoistischen Tempel, ein Labyrinth von Gassen. Ich ging ihm nach und paßte meinen Abstand den jeweiligen Gegebenheiten an, um zu verhindern, daß er mich bemerkte. Und es war offensichtlich, daß er mich nicht bemerkt hatte. Er drehte sich kein einziges Mal um. Dieser Mann hatte eindeutig etwas an sich, was ihn von gewöhnlichen Leuten unterschied. Nicht nur drehte er sich kein einzigesmal um; er sah auch kein einziges Mal nach rechts oder links. Er war so vollkommen gesammelt: woran konnte er nur denken? Oder dachte er vielmehr an überhaupt nichts?
Bald betrat der Mann ein stilles Viertel mit verlassenen Straßen, die von zweigeschossigen Holzhäusern gesäumt wurden. Die Straße war eng und krumm, und dicht aneinandergedrängt standen auf beiden Seiten die heruntergekommenen Häuser. Wie wenig Menschen es hier gab, war schon fast unheimlich. Mehr als die Hälfte der Gebäude standen leer. Die Türen der unbewohnten Häuser waren mit Brettern vernagelt, und Schilder kündigten irgendwelche geplanten Baumaßnahmen an. Hier und da klafften, wie Zahnlücken, unbebaute Grundstücke, voll von Sommerunkraut und mit Maschendraht umzäunt. Wahrscheinlich war geplant, das ganze Viertel in naher Zukunft abzureißen und ein paar neue Hochhäuser hinzustellen. Der winzige Vorplatz eines der wenigen bewohnten Häuser war mit Töpfen von Winden und anderen Blumen vollgestellt. Ein Dreirad lag umgekippt auf der Seite, und am Fenster des Obergeschosses trockneten ein Handtuch und ein Kinderbadeanzug. Überall lagerten Katzen, unter den Fenstern, im Hauseingang, und musterten mich aus müden Augen. Trotz der hellen frühabendlichen Stunde war keine Menschenseele zu sehen. Ich konnte mich in dieser Gegend nicht orientieren; ich wußte nicht, wo Norden und wo Süden war. Vermutlich befand ich mich irgendwo in dem Dreieck zwischen Yoyogi, Sendagaya und Harajuku, aber sicher war ich mir nicht.
Es war auf jeden Fall ein vergessener Teil der Stadt. Man hatte ihn wahrscheinlich übersehen, weil die Straßen so eng waren, daß Autos kaum durchkamen. Die Hände der Immobilienmakler waren noch nicht bis hierher gelangt. Als ich das Viertel betrat, hatte ich das Gefühl gehabt, die Zeit sei um zwanzig oder dreißig Jahre zurückgedreht worden. Mir wurde bewußt, daß der ununterbrochene Verkehrslärm irgendwann verebbt und jetzt vollkommen verstummt war. Seinen Gitarrenkasten in der Hand, hatte sich der Mann zielstrebig durch das Gewirr von Straßen bewegt, bis er nun ein größeres Holzhaus erreichte. Er öffnete die Haustür, trat ein und drückte die Tür hinter sich zu. Soweit ich erkennen konnte, war sie nicht abgeschlossen gewesen.
Ich blieb eine Zeitlang stehen. Meine Uhr zeigte zwanzig nach sechs. Ich lehnte mich gegen den Maschendrahtzaun des unbebauten Grundstücks auf der gegenüberliegenden Straßenseite und betrachtete das zweigeschossige Gebäude. Es war ein typisches traditionelles Mietshaus; das verrieten die Eingangstür und die Anordnung der Zimmer. In meiner Studentenzeit hatte ich eine Zeitlang in einem solchen Haus gewohnt. Ein Schuhregal im Flur, eine Gemeinschaftstoilette, eine winzige Küche; und die Mieter waren ausschließlich Studenten und alleinstehende Arbeiter gewesen. Dieses Haus hier erweckte allerdings nicht den Eindruck, als wohne überhaupt jemand darin. Kein Geräusch war
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