Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
Schlag auf Schlag auf den Mann einzudreschen. Mir wurde bewußt, daß die Hand noch immer zur Faust geballt war, steinhart und zum Kampf bereit. Ich versuchte, sie zu entspannen, aber sie verweigerte den Gehorsam. Und was den Schlaf anging, war es weniger so, daß ich nicht schlafen konnte, als daß ich nicht wollte. Wenn ich in meinem gegenwärtigen Zustand eingeschlafen wäre, hätten mir entsetzliche Träume bevorgestanden. Um mich zu beruhigen, setzte ich mich an den Küchentisch, trank Schluck um unverdünnten Schluck von dem Whisky, den mein Onkel dagelassen hatte, und hörte mir eine Kassette mit ruhiger Musik an. Ich hatte das Bedürfnis, mit jemandem zu reden. Ich hatte das Bedürfnis, jemandes Stimme zu hören. Ich stellte das Telefon auf den Tisch und starrte es stundenlang an. Ruf mich bitte an, ruf mich bitte irgend jemand an, ganz egal wer - und wenn’s die geheimnisvolle Telefonfrau gewesen wäre; es war mir gleichgültig. Es hätte das schmutzigste und belangloseste Gerede sein können, das widerlichste und beängstigendste Gespräch. Es spielte keine Rolle. Ich wollte nur, daß jemand mit mir redete. Aber das Telefon klingelte nicht. Ich trank die verbliebene halbe Flasche Scotch aus, und als der Himmel hell geworden war, kroch ich ins Bett und schlief ein. Bitte mach, daß ich nicht träume, bitte mach, daß mein Schlaf leer bleibt, und wenn auch nur für heute.
    Aber natürlich träumte ich doch. Und erwartungsgemäß wurde es ein grauenvoller Traum. Der Mann mit dem Gitarrenkasten kam darin vor. Ich tat in dem Traum dasselbe, was ich in der Wirklichkeit getan hatte - ich folgte ihm, öffnete die Eingangstür des Mietshauses, wurde vom Schläger getroffen und prügelte, prügelte, prügelte auf den Mann ein. Aber danach ging es anders weiter. Kaum hatte ich aufgehört, auf ihn einzuschlagen und war aufgestanden, als der Mann, sabbernd und irrsinnig lachend, wie er es in Wirklichkeit getan hatte, ein Messer aus der Tasche zog - ein kleines, scharf aussehendes Messer. Die Klinge fing das schwache Abendlicht ein, das durch die Gardinen drang, und warf einen an Knochen gemahnenden weißen Schimmer zurück. Aber der Mann benutzte das Messer nicht, um mich anzugreifen. Er zog sich vielmehr völlig aus und fing dann an, sich seine Haut abzuschälen, als sei es die Haut eines Apfels. Er arbeitete rasch und lachte dabei die ganze Zeit aus vollem Hals. Das Blut sprudelte aus ihm hervor und bildete auf dem Fußboden eine bedrohliche schwarze Lache. Mit der rechten Hand schälte er sich die Haut des linken Arms ab, und mit seiner blutigen geschälten linken Hand schälte er die Haut seines rechten Arms ab. Am Ende war er ein einziger knallroter Klumpen Fleisch, aber selbst dann noch fuhr er fort, aus dem dunklen Loch seines klaffenden Mundes zu lachen, während sich die weißen Augäpfel krampfartig in der blutigen Fleischmasse wälzten. Bald begann die abgeschälte Haut des Mannes, gleichsam als Reaktion auf sein widernatürlich lautes Lachen, über den Fußboden auf mich zuzuglitschen. Ich versuchte fortzulaufen, aber meine Beine rührten sich nicht. Die Haut erreichte meine Füße und fing an, an mir emporzukriechen. Sie schob sich über meine eigene Haut, haftete an mir wie ein blutdurchtränkter Überzug. Der schwere Geruch von Blut war überall. Bald waren meine Beine, mein Rumpf, mein Gesicht vollständig von einer dünnen Membran bedeckt - von der Haut des Mannes. Dann konnten meine Augen nichts mehr sehen, und das Gelächter des Mannes hallte in der hohlen Dunkelheit wider. An diesem Punkt wachte ich auf.
    Ich war von Angst und Verwirrung überwältigt. Für eine Weile verlor ich sogar die Gewißheit, daß ich existierte. Meine Finger zitterten. Doch zugleich wußte ich, daß ich zu einem Schluß gelangt war.
    Ich konnte nicht - durfte nicht - fortlaufen, weder nach Kreta noch sonstwohin. Ich mußte Kumiko zurückholen. Ich mußte sie mit meinen eigenen Händen in diese Welt zurückziehen. Weil es mein Ende bedeuten würde, wenn ich es nicht tat. Diese Person, dieses Individuum, zu dem ich »Ich« sagte, würde verloren sein.

DRITTES BUCH
      
    DER VOGELFÄNGER
      
    OKTOBER BIS DEZEMBER 1985

1
    D ER AUFZIEHVOGEL IM WINTER
     
    Zwischen dem Ende dieses seltsamen Sommers und dem Herannahen des Winters ging mein Leben unverändert weiter. Jeder einzelne Tag brach ohne Vorkommnisse an und endete, wie er begonnen hatte. Im September regnete es viel. Der Oktober brachte mehrere warme, schweißklebrige

Weitere Kostenlose Bücher