Mister Aufziehvogel
Nachbarsgärten Blätter in Hülle und Fülle herbei. Die Arbeit störte mich nicht. Ich sah zu, wie die welken Blätter in der Nachmittagssonne herabschwebten, und damit verging die Zeit. Ein großer Baum im Nachbarsgarten zur Rechten trug leuchtend rote Beeren. Ganze Vogelschwärme fielen darüber her und tschilpten um die Wette. Es waren buntgefiederte Vögel, die mit ihren kurzen, spitzen Rufen die Luft zerstachen.
Ich überlegte, wie ich am besten mit Kumikos Sommersachen verfahren sollte. Ich konnte sie einfach wegwerfen, wie Kumiko es in ihrem Brief vorgeschlagen hatte. Aber ich erinnerte mich, wie liebevoll sie jedes einzelne Kleidungsstück gepflegt hatte. Und es war nicht so, daß ich keinen Platz gehabt hätte, um die Sachen aufzubewahren. Ich beschloß, sie erst einmal da zu lassen, wo sie waren. Doch jedesmal, wenn ich den Schrank öffnete, wurde ich mit Kumikos Abwesenheit konfrontiert. Die Kleider, die da hingen, waren die Hüllblätter von etwas, das einmal gewesen war. Ich wußte, wie Kumiko in diesen Kleidern ausgesehen hatte, und an manche davon knüpften sich besondere Erinnerungen. Zuweilen ertappte ich mich dabei, daß ich auf der Bettkante saß und auf die Reihen von Kleidern, Blusen oder Röcken starrte. Ich wußte dann nie, wie lang ich schon so dagesessen hatte; es konnten zehn Minuten oder auch eine Stunde gewesen sein. Wenn ich da saß und ein Kleid anstarrte, stellte ich mir manchmal einen mir unbekannten Mann vor, der Kumiko daraus heraushalf. Seine Hände streiften das Kleid ab, dann zogen sie ihr die Unterwäsche aus. Sie liebkosten ihre Brüste und drückten ihre Oberschenkel auseinander. Ich sah diese Brüste und Schenkel in ihrer weißen Weichheit vor mir, und ich sah die Hände des anderen Mannes, die sie berührten. Ich wollte an solche Dinge nicht denken, aber ich hatte nicht die Wahl. Sie waren wahrscheinlich wirklich passiert. Ich mußte mich an solche Vorstellungen gewöhnen. Ich konnte die Wirklichkeit nicht einfach beiseite schieben.
Von Zeit zu Zeit erinnerte ich mich an die Nacht, in der ich mit Kreta Kano geschlafen hatte, aber die Erinnerung daran war seltsam verschwommen. Ich hatte sie in jener Nacht in meinen Armen gehalten und meinen Körper immer wieder mit dem ihren vereinigt: das war eine unbestreitbare Tatsache. Aber im Verlauf der Wochen schwand das Gefühl von Gewißheit mehr und mehr. Es gelang mir nicht mehr, konkrete Bilder von ihrem Körper heraufzubeschwören oder von den verschiedenen Weisen, auf die er sich mit meinem vereinigt hatte. Wenn überhaupt, waren die Erinnerungen an das, was ich davor im Geist - in der Unwirklichkeit - mit ihr getan hatte, weit lebhafter als die Erinnerungen an die Wirklichkeit jener Nacht. Das Bild, wie Kreta Kano in jenem seltsamen Hotelzimmer, in Kumikos blauem Kleid rittlings auf mir saß, drängte sich mir immer und immer wieder mit verblüffender Klarheit ins Bewußtsein.
Anfang Oktober starb Noboru Watayas Onkel, der im Unterhaus den Wahlkreis Niigata vertreten hatte. Kurz nach Mitternacht erlitt er in seinem Krankenhausbett in Niigata einen Herzinfarkt, und trotz aller Bemühungen der Ärzte war er noch vor dem Morgen tot. Man hatte natürlich schon lange mit seinem Tod gerechnet, und die Parlamentswahlen standen kurz bevor, und so machten sich die Anhänger des Onkels unverzüglich daran, Noboru Wataya nach ihrem vorab gefaßten Plan, den Wahlkreis zuzuschanzen. Die Stimmenfangmaschinerie des verblichenen Abgeordneten funktionierte auf gut konservativer Grundlage bestens. Falls nichts Unvorhergesehenes eintrat, hatte Noboru Wataya den Wahlsieg so gut wie in der Tasche.
Als ich in der Bücherei den Zeitungsartikel las, fiel mir als erstes ein, daß die Watayas von nun an alle Hände voll zu tun haben würden. An Kumikos Scheidung würden sie nun am letzten denken.
Der schwarzblaue Fleck in meinem Gesicht nahm weder ab noch zu. Er rief weder Fieber noch Schmerzen hervor. Nach und nach vergaß ich sogar, daß ich ihn hatte. Ich gab mir keine Mühe mehr, ihn zu verbergen, indem ich mir eine Sonnenbrille aufsetzte oder einen Hut mit tief heruntergezogener Krempe trug. Gelegentlich wurde ich wieder daran erinnert, wenn die Leute mich in den Geschäften anstarrten oder bemüht wegsahen, aber selbst diese Reaktionen störten mich nach einer Weile nicht mehr. Damit, daß ich ein Mal im Gesicht hatte, schadete ich keinem. Ich sah es mir jeden Morgen beim Waschen und Rasieren an, aber ich konnte keine Veränderung
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