Mister Aufziehvogel
Tage. Vom Wetter abgesehen gab es kaum etwas, was einen Tag vom anderen unterschieden hätte. Ich übte mich darin, meine Aufmerksamkeit auf das Wirkliche und Nützliche zu konzentrieren. Ich ging fast jeden Tag ins Hallenbad und schwamm lange, unternahm ausgedehnte Spaziergänge, bereitete mir täglich drei Mahlzeiten zu. Dennoch durchfuhr mich die Einsamkeit von Zeit zu Zeit wie ein stechender Schmerz. Selbst das Wasser, das ich trank, selbst die Luft, die ich atmete, fühlten sich dann wie lange scharfe Nadeln an. Die Seiten eines Buches, das ich in den Händen hielt, nahmen den bedrohlich metallischen Glanz von Rasierklingen an. Um vier in der Frühe, wenn die Welt schwieg, konnte ich die Wurzeln der Einsamkeit durch mich hindurchkriechen hören.
Und doch, ein paar Leute ließen mich einfach nicht in Ruhe - Leute aus Kumikos Familie, die mir Briefe schrieben. Kumiko könne nicht mit mir verheiratet bleiben, erklärten sie, folglich müsse ich sofort in die Scheidung einwilligen. Das würde angeblich sämtliche Probleme lösen. Die ersten paar Briefe versuchten, in geschäftsmäßigem Ton Druck auf mich auszuüben. Als ich nicht antwortete, probierten sie es mit offenen Drohungen, und zuletzt verlegten sie sich aufs Bitten. Alle hatten dasselbe im Sinn. Schließlich rief Kumikos Vater an.
»Ich sage nicht, daß ich absolut gegen eine Scheidung bin«, sagte ich. »Aber zuerst will ich Kumiko sehen und mit ihr sprechen, und zwar allein. Wenn sie mich davon überzeugen kann, daß sie es so will, dann willige ich in die Scheidung ein. Aber nur unter dieser Voraussetzung.«
Ich wandte mich zum Küchenfenster und sah zu dem dunklen, bis in die Ferne regenschwangeren Himmel auf. Seit vier Tagen regnete es ununterbrochen in eine nasse, schwarze Welt. »Kumiko und ich haben alles durchgesprochen, bevor wir zu heiraten beschlossen haben, und wenn wir diese Ehe beenden, will ich, daß es auf die gleiche Weise geschieht.«
Kumikos Vater und ich argumentierten noch eine Zeitlang aneinander vorbei und gelangten nirgendwohin - oder zumindest zu keinem Ergebnis.
Es blieben noch mehrere offene Fragen. Wollte sich Kumiko wirklich von mir scheiden lassen? Und hatte sie ihre Eltern gebeten, darauf hinzuwirken, daß ich mein Einverständnis gab? »Kumiko sagt selbst, daß sie Sie nicht sehen will«, hatte mir ihr Vater erklärt, ebenso wie ihr Bruder. Das war wahrscheinlich nicht völlig aus der Luft gegriffen. Kumikos Eltern waren sich gewiß nicht zu schade, gewisse Dinge zu ihren Gunsten auszulegen, aber soweit ich es beurteilen konnte, war es nicht ihre Art, glatt etwas zu erfinden. Sie waren Realisten, im guten wie im schlechten Sinne. Und wenn ihr Vater die Wahrheit gesagt hatte, bedeutete dies dann, daß Kumiko jetzt bei ihnen »Unterschlupf gefunden« hatte? Das konnte ich nicht glauben. Schon seit frühester Kindheit hatte Kumiko für ihre Eltern und ihren Bruder alles mögliche empfunden, aber gewiß keine Zuneigung. Jahrelang hatte sie sich abgeplagt, um von ihnen unabhängig zu bleiben. Es war durchaus möglich, daß Kumiko beschlossen hatte, mich zu verlassen, weil sie einen Liebhaber hatte. Auch wenn ich die Erklärung, die sie mir in ihrem Brief gegeben hatte, nicht vorbehaltlos akzeptieren konnte, wußte ich, daß das nicht völlig ausgeschlossen war. Absolut unannehmbar aber war für mich, daß Kumiko von mir schnurstracks zu ihnen - oder in irgendeine Wohnung, die sie ihr eingerichtet hatten - gegangen sein sollte und daß sie mit mir nur über diese Leute kommunizierte.
Je länger ich darüber nachdachte, desto weniger verstand ich das Ganze. Eine Möglichkeit war, daß Kumiko einen seelischen Zusammenbruch erlitten hatte und nicht mehr imstande war, für sich selbst zu sorgen. Eine andere war, daß sie gegen ihren Willen irgendwo festgehalten wurde. Ich verbrachte mehrere Tage damit, eine Vielzahl von Fakten, Äußerungen und Erinnerungen immer wieder anders zu kombinieren, bis ich schließlich alle Erwägungen aufgeben mußte. Spekulationen brachten mich nicht einen Schritt weiter.
Der Herbst neigte sich dem Ende zu, und in der Luft hing schon ein Hauch von Winter. Wie immer zu dieser Zeit des Jahres harkte ich im Garten das tote Laub zusammen und stopfte es in Vinylsäcke. Ich lehnte eine Leiter ans Dach und entfernte die Blätter aus den Regenrinnen. Im kleinen Garten des Hauses, das ich bewohnte, gab es keine Bäume, aber der Wind wehte von den ausladenden Laubbäumen der beiden
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