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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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feststellen; es blieb in seiner Größe, Farbe und Form stets gleich. Die Anzahl der Personen, die eine gewisse Besorgnis über das plötzliche Erscheinen eines Mals auf meiner Wange zum Ausdruck brachten, belief sich auf exakt vier: der Besitzer der Reinigung am Bahnhof, mein Friseur, der junge Mann vom Getränkehandel Omura und die Frau am Schalter unserer Leihbücherei. Auf jede entsprechende Bemerkung reagierte ich mit einer überdrüssigen Miene und einer vagen Erklärung, wie: »Ich hatte einen kleinen Unfall.« Worauf die Leute »ach du liebe Zeit« oder »schlimm, schlimm« murmelten, als wollten sie sich dafür entschuldigen, daß sie überhaupt damit angefangen hatten. Mit jedem Tag, der verging, schien ich mich mehr von mir zu entfernen. Wenn ich eine Weile auf meine Hand starrte, bekam ich allmählich das Gefühl, ich sähe durch sie hindurch. Ich redete mit kaum jemandem. Niemand schrieb mir oder rief mich an. Im Briefkasten fand ich nur Strom- und ähnliche Rechnungen und Reklamesendungen, und der größte Teil der Reklame waren an Kumiko adressierte Modekataloge voll bunter Fotos von Frühlingskleidern, -blusen und -röcken. Es wurde ein kalter Winter, aber manchmal vergaß ich, die Heizung einzuschalten, denn ich war mir nicht sicher, ob die Kälte wirklich war oder nur in mir herrschte. Ich drückte den Schalter immer erst, nachdem mich ein Blick auf das Zimmerthermometer davon überzeugt hatte, daß es wirklich kalt war, aber es änderte nichts: die Kälte, die ich verspürte, blieb unverändert.
     
    Ich schrieb an Leutnant Mamiya und berichtete ihm in groben Zügen, wie es mir in den letzten Monaten ergangen war. Es war nicht auszuschließen, daß es ihn eher peinlich als freudig berühren würde, diesen Brief zu erhalten, aber mir fiel niemand anders ein, dem ich hätte schreiben können. Genau so lautete auch die Entschuldigung, mit der ich meinen Brief begann. Dann teilte ich ihm mit, daß Kumiko mich an demselben Tag verlassen hatte, an dem er bei mir gewesen war, daß sie seit einigen Monaten mit einem anderen Mann geschlafen hatte, daß ich fast drei Tage lang in einem Brunnen gesessen und nachgedacht hatte, daß ich jetzt ganz allein in diesem Haus wohnte und daß Herrn Hondas Andenken lediglich eine leere Whiskyschachtel gewesen war. Eine Woche später erhielt ich Leutnant Mamiyas Antwort.
     
    Wenn ich ehrlich sein soll, sind meine Gedanken seit unserer letzten Begegnung mit fast befremdlicher Beharrlichkeit um Ihre Person gekreist. Ich verließ damals Ihr Haus mit dem Gefühl, daß wir eigentlich hätten weiterreden, sozusagen voreinander » alles herauslassen « sollen, und daß es nicht dazu kam, hat mich seither mit nicht geringem Bedauern erfüllt. Leider war es wegen einer dringenden Angelegenheit unumgänglich daß ich noch an demselben Abend nach Hiroshima zurückkehrte. Insofern war es mir in gewissem Sinne eine große Freude, Ihren Brief zu empfangen. Ich frage mich, ob es nicht überhaupt Herrn Hondas Absicht gewesen sein könnte, uns beide miteinander zusammenzubringen. Vielleicht meinte er, es wäre gut für mich, Sie kennenzulernen, und gut für Sie, mich kennenzulernen. Die Verteilung der Andenken könnte durchaus ein bloßer Vorwand gewesen sein, um mich zu Ihnen zu schicken. Dies könnte auch die leere Schachtel erklären. In diesem Fall hätte das Andenken an Herrn Honda in meinem Besuch bei Ihnen bestanden.
    Es hat mich zutiefst erstaunt zu erfahren, daß Sie sich längere Zeit in einem Brunnen aufgehalten haben, da ich mich selbst noch immer stark zu Brunnen hingezogen fühle. Wenn man bedenkt, wie knapp ich seinerzeit dem Tod entronnen bin, sollte man annehmen, mein Bedarf an Brunnen wäre endgültig gedeckt, aber ganz im Gegenteil: noch heute kann ich an keinem Brunnen vorbeigehen, ohne hineinzublicken. Und wenn sich herausstellt, daß er ausgetrocknet ist, verspüre ich den Drang, hinunterzuklettern. Wahrscheinlich hege ich noch immer die Hoffnung, daß mir da unten etwas begegnen würde - daß ich, wenn ich nur hineinstiege und lange genug wartete, einem gewissen Etwas begegnen könnte. Natürlich erwarte ich nicht, daß es mir mein Leben zurückgibt. Nein, für derlei Hoffnungen bin ich viel zu alt. Was ich zu finden hoffe, ist der Sinn des Lebens, das ich verloren habe. Was raubte es mir, und warum? Ich will die Antworten auf diese Fragen wissen. Und ich würde so weit gehen zu sagen, daß ich als Preis für diese Antworten sogar in Kauf nähme, noch

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