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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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hoffnungsloser verloren zu sein, als ich bereits bin. Ja, ich wäre gern bereit, eine solche Bürde auf mich zu nehmen und für die Dauer der mir verbleibenden Lebensjahre, wie viele es auch sein mögen, klaglos zu tragen. Es hat mich aufrichtig betrübt zu erfahren, daß Ihre Frau Sie verlassen hat, doch ich sehe mich außerstande, Ihnen in dieser Angelegenheit irgendwelche Ratschläge zu geben. Zu lange schon lebe ich ohne die Wärme der Liebe oder einer Familie, als daß ich befugt wäre, in derlei Fragen das Wort zu ergreifen. Sollten Sie allerdings auch nur die leiseste Neigung in sich verspüren, noch eine Weile auf ihre Rückkehr zu warten, dann - dessen bin ich mir gewiß - täten Sie wahrscheinlich gut daran, dort zu bleiben, wo Sie sind, und weiter zu warten. Das ist zumindest meine bescheidene Meinung. Mir ist vollkommen bewußt, wie hart es sein muß, allein weiter in einem Haus zu wohnen, aus dem ein geliebter Mensch ausgezogen ist, aber nichts auf der Welt ist so grausam wie der trostlose Zustand, nichts mehr zu haben, worauf man hoffen könnte.
    Wenn möglich, würde ich gern irgendwann in naher Zukunft nach Tokio kommen und Sie wiedersehen, doch leider bereitet mir ein Bein gegenwärtig leichtere Beschwerden, und die Behandlung wird eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen. Seien Sie bitte meiner besten Wünsche und Grüße versichert.
     
    Manchmal stieg ich über die Gartenmauer und ging die gewundene Gasse entlang bis zu der Stelle, wo einst das verlassene Haus der Miyawakis gestanden hatte. In dreiviertellangem Mantel und Schal stapfte ich vermummt durch das tote Wintergras der Gasse. Kurze Böen von frostigem Winterwind pfiffen über mir in den Stromleitungen. Das Haus war vollständig abgerissen worden, und nun umgab ein hoher Plankenzaun das Grundstück. Ich konnte durch die Ritzen im Zaun hineinschauen, doch da drinnen gab es nichts zu sehen - kein Haus, keine Terrasse, keinen Brunnen, keine Bäume, keine Fernsehantenne, keine Vogelplastik: nur ein flaches schwarzes Stück kalt aussehender Erde, von den Ketten einer Planierraupe festgewalzt, und ein paar vereinzelte Unkrautbüsche. Es fiel mir schwer zu glauben, daß es dort auf diesem Grundstück einmal einen tiefen Brunnen gegeben hatte und daß ich in ihn hineingestiegen war. Ich lehnte mich gegen den Zaun und sah hinauf zu May Kasaharas Haus, zum ersten Stock, wo ihr Zimmer lag. Aber sie war nicht mehr da. Sie würde nie wieder herauskommen und sagen: »Hallo, Mister Aufziehvogel.«
     
    An einem bitterkalten Nachmittag Mitte Februar schaute ich bei Immobilien Satagaya Dai-ichi vorbei, dem Maklerbüro am Bahnhof, von dem mir mein Onkel erzählt hatte. Als ich hereinkam, sah ich als erstes eine Empfangssekretärin mittleren Alters. In der Nähe des Eingangs standen mehrere Schreibtische, aber sie waren unbesetzt, als seien alle Makler zu Besichtigungsterminen unterwegs. In der Mitte des Raums glühte hellrot ein großer Gasbrenner. Auf einem Sofa in einem kleinen Empfangsbereich im hinteren Teil saß ein schmächtiger alter Mann, in eine Zeitung vertieft. Ich fragte die Sekretärin, ob ich wohl Herrn Ichikawa sprechen könne. »Das bin ich«, sagte der alte Mann und sah zu mir herüber. »Was kann ich für Sie tun?«
    Ich stellte mich als Neffe meines Onkels vor und erwähnte, daß ich in einem der Häuser meines Onkels wohnte. »Ich verstehe«, sagte der alte Mann und legte die Zeitung beiseite. » Sie sind also Herrn Tsurutas Neffe!« Er klappte seine Lesebrille zusammen und musterte mich von Kopf bis Fuß. Was für einen Eindruck ich auf ihn machte, konnte ich nicht erkennen. »Kommen Sie herein, kommen Sie herein. Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?«
    Ich sagte, er möge sich keine Umstände machen, aber entweder hörte er mich nicht, oder er ignorierte meine Ablehnung. Er ließ die Empfangssekretärin Tee zubereiten. Sie brauchte dazu nicht lange, aber bis wir uns gegenübersaßen und unseren Tee tranken, war der Ofen ausgegangen, und im Zimmer wurde es spürbar kühl. An der Wand hing ein Katasterplan des Viertels; etliche Häuser waren mit Bleistift oder Filzschreiber markiert. Daneben hing ein Kalender mit van Goghs berühmter Brücke: ein Bankkalender.
    »Ich habe Ihren Onkel seit einer ganzen Weile nicht mehr gesehen. Wie geht es ihm?« fragte der alte Mann nach einem Schluck Tee.
    »Gut, glaube ich. Er hat wie immer viel zu tun. Ich sehe ihn selbst nicht oft«, sagte ich.
    »Es freut mich zu hören, daß es ihm gut geht. Wie

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