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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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bestellte eine Tasse Schokolade und betrachtete, ohne mir dessen ganz bewußt zu sein, die Leute, die draußen vorbeigingen.
    Ich merkte kaum, wie die Zeit verging. Es mochten fünfzehn, vielleicht zwanzig Minuten verstrichen sein, als mir bewußt wurde, daß meine Augen jedem blitzenden Mercedes, Jaguar und Porsche gefolgt waren, der sich den verstopften Boulevard entlanggequält hatte. Im frischen vormittäglichen Licht nach einer Regennacht funkelten diese Autos mit fast schmerzendem Glanz, wie Symbole für irgend etwas. Sie waren absolut makellos. Diese Typen haben Geld. Ein solcher Gedanke war mir bislang noch nie gekommen. Ich sah mein Spiegelbild in der Glasscheibe an und schüttelte den Kopf. Dies war das erste Mal in meinem Leben, daß ich verzweifelt Geld brauchte.
    Als sich das Café um die Lunchzeit zu füllen begann, beschloß ich, einen Spaziergang zu machen. Ich hatte kein bestimmtes Ziel: ich wollte nur durch die Stadt schlendern, die ich so lang nicht mehr gesehen hatte. Ich ging die Straßen entlang und achtete nur darauf, daß ich nicht mit entgegenkommenden Passanten zusammenstieß. Ich bog nach rechts oder links ab oder ging geradeaus, je nachdem wie die Ampeln standen oder wonach mir gerade war. Die Hände in den Taschen, konzentrierte ich mich auf den körperlichen Akt des Gehens - von den Boulevards mit ihren Reihen von Kaufhäusern und langen Schaufensterfronten zu den Seitengassen mit ihren knallig dekorierten Pornoläden, zu den belebten Straßen, wo Kino neben Kino stand, durch den stillen Hof eines Shinto-Schreins und zurück auf die Boulevards. Es war ein warmer Nachmittag, und fast jeder zweite Passant hatte seinen Mantel zu Hause gelassen. Die gelegentliche Brise fühlte sich zur Abwechslung wieder angenehm an. Ehe ich mich’s versah, befand ich mich in einer vertrauten Umgebung. Ich sah auf die Kacheln unter meinen Füßen, auf die kleine Plastik und auf das hohe gläserne Gebäude, das wuchtig vor mir emporragte. Ich stand in der Mitte des kleinen Platzes vor dem Hochhaus - genau da, wo ich im letzten Sommer immer hingegangen war, um die Passanten zu beobachten, wie mein Onkel mir geraten hatte. Elf Tage lang hatte ich das getan, und am Ende war ich dem verrückten Mann mit dem Gitarrenkasten in dieses merkwürdige Mietshaus gefolgt, wo er mit dem Baseballschläger auf mich losgegangen war. Meine ziellose Wanderung durch Shinjuku hatte mich wieder an genau denselben Ort zurückgeführt.
    Wie damals kaufte ich mir bei Dunkin’ Donuts einen Kaffee und ein Doughnut und setzte mich damit auf die Bank. Ich saß da und betrachtete die Gesichter der Passanten, und das versetzte mich in eine zunehmend entspanntere und friedlichere Stimmung. Ich fühlte mich unerklärlich gut, als hätte ich eine gemütliche Nische gefunden, von der aus ich die Leute beobachten konnte, ohne selbst von ihnen gesehen zu werden. Es war sehr lange her, daß ich mir Gesichter so aufmerksam angesehen hatte. Und nicht nur Gesichter, ging mir auf: Während all dieser vergangenen Monate hatte ich mir so gut wie nichts angesehen - richtig angesehen, jedenfalls. Ich saß aufrecht auf der Bank und vertiefte mich ins Ansehen. Ich sah die Menschen an, ich sah die Hochhäuser an, die rings emporragten, ich sah den Frühlingshimmel an, der durch die aufgerissenen Wolken herableuchtete, ich sah die bunten Plakatwände an, ich hob eine Zeitung auf, die in der Nähe herumlag, und sah sie an. Als der Abend nahte, schienen die Dinge allmählich ihre Farbigkeit wiederzugewinnen.
     
    Am nächsten Morgen nahm ich wieder den Zug nach Shinjuku. Ich setzte mich auf dieselbe Bank und sah die Gesichter der Leute an, die an mir vorübergingen. Wieder holte ich mir zu Mittag ein Doughnut und einen Kaffee. Bevor die abendliche Rush-hour einsetzte, stieg ich wieder in den Zug und fuhr nach Haus zurück. Ich bereitete mir ein Abendessen vor, trank ein Bier und hörte mir im Radio Musik an. Am folgenden Tag tat ich wieder genau dasselbe. Auch an dem Tag ereignete sich nichts. Ich machte keine Entdeckungen, löste keine Rätsel, beantwortete keine Fragen. Wohl aber hatte ich das unbestimmte Gefühl, mich, ganz langsam, einem Punkt zu nähern. Diese Bewegung, diese allmählich wachsende Nähe nahm ich jedesmal wahr, wenn ich mich im Spiegel über dem Waschbecken betrachtete. Mein Mal war leuchtender gefärbt als je zuvor, wärmer als je zuvor. Mein Mal lebt, sagte ich mir. So wie ich lebe, lebt auch mein Mal. Tagein, tagaus wiederholte ich

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