Mister Aufziehvogel
die Übung, genau wie im vergangenen Sommer: Kurz nach zehn nahm ich den Zug in die Stadt, setzte mich auf dem Vorplatz des Hochhauses auf die Bank und sah den ganzen Tag lang, ohne einen Gedanken im Kopf, die Passanten an. Von Zeit zu Zeit rückten die wirklichen Geräusche aus meiner Umgebung von mir ab und verstummten. Dann hörte ich nichts anderes als das tiefe, ruhige Rauschen von fließendem Wasser. Ich dachte an Malta Kano Dem Geräusch von Wasser lauschen - sie hatte davon gesprochen. Wasser war ihr Leitmotiv. Aber ich konnte mich nicht mehr erinnern, was Malta Kano über das Geräusch von Wasser gesagt hatte. Ebensowenig konnte ich mich ihres Gesichts entsinnen. Lediglich an das Rot ihres Vìnylhuts erinnerte ich mich. Warum hatte sie bloß immer diesen roten Vinylhut getragen?
Dann aber kehrten die Außengeräusche allmählich wieder zurück, und wieder wandte ich meinen Blick den Gesichtern der Leute zu.
Am Nachmittag meines achten Tages in der Stadt sprach mich eine Dame an. Einen leeren Kaffeebecher in der Hand, sah ich in dem Moment gerade in eine andere Richtung. »Verzeihung«, sagte sie. Ich wandte mich um und hob den Blick zum Gesicht der Dame, die vor mir stehengeblieben war. Es war dieselbe Frau mittleren Alters, der ich letzten Sommer begegnet war - der einzige Mensch, der mich während meiner ganzen Zeit auf dem Platz angesprochen hatte. Ich hätte nie gedacht, daß wir uns je wiedersehen würden, aber als sie mich jetzt ansprach, erschien es mir wie der natürliche Abschluß einer mächtigen fließenden Bewegung. Wie damals war die Dame äußerst gut gekleidet, sowohl, was die Qualität der einzelnen Kleidungsstücke, als auch, was den Geschmack anbelangte, mit dem sie kombiniert waren. Sie trug eine Sonnenbrille aus dunklem Schildpatt, eine rauchblaue Jacke mit gepolsterten Schultern und einen roten Flanellrock. Ihre Bluse war aus Seide, und am Revers ihrer Jacke funkelte eine schön gearbeitete Goldbrosche. Ihre roten Pumps waren von schlichtem Design, aber von dem, was sie dafür bezahlt haben mußte, hätte ich mehrere Monate leben können. Mein Outfit war dagegen wie immer eine mittlere Katastrophe: die Baseballjacke, die ich mir in meinem ersten Collegejahr gekauft hatte, ein graues Sweatshirt mit ausgeleierter Halsöffnung, ausgefranste Jeans und ehemals weiße, inzwischen eher undefinierbarfarbene Tennisschuhe.
Trotz unserer kontrastierenden Aufmachung nahm sie neben mir Platz, schlug die Beine übereinander und holte, ohne ein Wort zu sagen, eine Schachtel Virginia Slims aus ihrer Handtasche. Wie letzten Sommer bot sie mir eine an, und wieder lehnte ich ab. Sie steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie sich mit einem länglich-schlanken goldenen Feuerzeug von Radiergummigröße an. Dann nahm sie die Sonnenbrille ab, steckte sie in die Tasche ihrer Jacke und starrte mir in die Augen, als suche sie eine Münze, die ihr in einen seichten Teich gefallen war. Ich musterte meinerseits ihre Augen. Es waren seltsame Augen, sehr tief, aber ohne jeden Ausdruck.
Sie kniff die Lider leicht zusammen und sagte: »So. Sie sind wieder da.« Ich nickte.
Ich beobachtete den Rauch, der von der Spitze ihrer dünnen Zigarette aufstieg und mit dem Wind verwehte. Sie drehte sich um und musterte die uns umgebende Szenerie, als wollte sie sich ein eigenes Bild von dem machen, was ich mir von der Bank aus angesehen hatte. Was sie sah, schien sie allerdings nicht weiter zu interessieren; sie richtete den Blick wieder auf mich. Lange starrte sie mein Mal an, dann meine Augen, meine Nase, meinen Mund und dann wieder mein Mal. Ich hatte das Gefühl, daß sie mich eigentlich am liebsten wie einen Hund auf einer Ausstellung gemustert hätte: mir die Lippen auseinandergezogen, um meine Zähne zu prüfen, mir in die Ohren hineingeschaut, und was Hundekenner sonst noch tun.
»Ich glaube, jetzt könnte ich Geld gebrauchen«, sagte ich. Sie blieb einen Augenblick lang stumm. »Wieviel?«
»Achtzig Millionen Yen müßten eigentlich reichen.«
Sie wandte die Augen von meinen ab und starrte blicklos in den Himmel, als stellte sie ein paar Kalkulationen an: Mal sehen, wenn ich das von da nehme und dies von hier dorthin verschiebe … Währenddessen betrachtete ich aufmerksam ihr Make-up - den Lidschatten, so blaß wie der Schatten eines Gedankens, die Bogenlinie ihrer Wimpern, von der zarten Anmut eines Symbols. »Das ist kein kleiner Betrag«, sagte sie und verzog ihre Lippen leicht in die
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