Mister Aufziehvogel
standen bei dem Geräusch auf. Zwischen den Gitterstäben hindurch starrten sie die Soldaten wütend an und brüllten markerschütternd auf. Vorsichtshalber zog der Leutnant seine automatische Pistole aus dem Halfter und entsicherte sie. Zur Beruhigung räusperte er sich. Das ist gar nichts, versuchte er sich einzureden. Jeder tut so etwas, andauernd. Die Soldaten knieten sich hin, zielten sorgfältig, und auf das Kommando des Leutnants hin drückten sie ab. Der Rückstoß knallte ihnen den Kolben gegen die Schulter, und einen Augenblick lang war ihr Kopf wie leergewischt. Das Gebell der gleichzeitig abgefeuerten Schüsse hallte durch den verlassenen Zoo, prallte von Gebäude zu Gebäude, von Wand zu Wand, fetzte durch Baumbestände, jagte wie ferner Donner über Wasserflächen hinweg und trieb jedem, der es hörte, einen Dolch ins Herz. Die Tiere hielten den Atem an. Sogar die Zikaden verstummten. Noch lange, nachdem das Echo des Gewehrfeuers verhallt war, herrschte vollkommene Stille. Als habe ihnen ein unsichtbarer Riese mit einer gigantischen Keule einen Schlag verpaßt, machten die Tiger einen Satz in die Luft und landeten einen Augenblick später mit dumpfem Aufprall auf dem Käfigboden. Blut erbrechend, wanden sie sich im Todeskampf. Die Soldaten hatten es nicht geschafft, die Tiger mit einem einzigen Feuerstoß zu erledigen. Aus ihrer Trance gerissen, luden sie durch und zielten erneut.
Um sich zu vergewissern, daß beide Tiger wirklich tot waren, schickte der Leutnant einen seiner Männer in den Käfig. Sie sahen zwar tot aus - die Augen geschlossen, die Fänge entblößt, die Leiber vollkommen reglos. Aber es war wichtig, sich Gewißheit zu verschaffen. Der Tierarzt schloß den Käfig auf, und der junge Soldat (er war gerade erst zwanzig geworden) trat furchtsam ein, mit aufgepflanztem Bajonett sichernd. Er gab ein ziemlich komisches Bild ab, aber niemand lachte. Er verpaßte dem Hinterteil des einen Tigers einen leichten Tritt mit dem Stiefelabsatz. Das Tier rührte sich nicht. Der Soldat trat noch einmal, jetzt ein bißchen fester, gegen dieselbe Stelle. Der Tiger war ohne jeden Zweifel tot. Der andere Tiger (das Weibchen) lag ebenso still da. Der junge Soldat war in seinem Leben noch nie in einem Zoo gewesen, hatte noch nie einen echten Tiger gesehen. Zum Teil deshalb konnte er nicht recht glauben, daß sie es gerade geschafft hatten, einen echten, lebendigen Tiger zu erlegen. Er hatte lediglich das Gefühl, an einen Ort, der nichts mit ihm zu tun hatte, geschleift und dort gezwungen worden zu sein, eine Tat zu begehen, die nichts mit ihm zu tun hatte. Er stand in einem Meer von schwarzem Blut und starrte entgeistert auf die Tigerleichen hinunter. Tot sahen sie viel größer aus als lebendig. Wie ist das nur möglich? fragte er sich verblüfft.
Der Zementboden des Käfigs verströmte den durchdringenden Gestank des Harns der Großkatzen, und mit diesem mischte sich der warme Geruch von Blut. Weiteres Blut sprudelte aus den Löchern, die die Kugeln in die Körper der Tiger gerissen hatten, und bildete eine klebrige schwarze Pfütze um seine Füße. Auf einmal fühlte das Gewehr in seiner Hand sich schwer und kalt an. Er hätte es am liebsten fortgeworfen, sich vornübergebeugt und alles, was er im Magen hatte, auf den Fußboden gespuckt. Was wäre das für eine Erleichterung gewesen! Aber Erbrechen kam nicht in Frage - der Zugführer hätte ihm die Schnauze eingeschlagen. (Natürlich ahnte dieser Soldat nicht, daß ihm siebzehn Monate später in einem Bergwerk in der Nähe von Irkutsk eine sowjetische Wache mit einer Schaufel den Schädel zertrümmern würde.) Er wischte sich mit dem Rücken des Handgelenks den Schweiß von der Stirn. Das Gewicht des Stahlhelms machte ihm zu schaffen. Wie endlich zu neuem Leben erwacht, begann eine Zikade zu zirpen, dann noch eine. Bald mischten sich in ihr Gezirpe die Rufe eines Vogels - eindringliche Laute, als würde eine Feder aufgezogen: Schnaaarr. Schnaaarr. Der junge Soldat war als Zwölfjähriger mit seiner Familie aus einem Bergdorf auf Hokkaido tortgezogen und über das Japanische Meer gefahren, und gemeinsam hatten sie seither den Boden eines Grenzdorfs in Bei’an bestellt, bis er vor einem Jahr eingezogen worden war. Daher kannte er alle Vögel der Mandschurei, aber einen, der so rief, hatte er noch nie gehört. Vielleicht war es ein Vogel aus einem fernen Land, der in einem anderen Teil des Zoos in seinem Käfig schrie. Aber der Ruf schien eher von
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