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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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kam, kletterte ich ihm auf den Schoß, und dann mußte er stillsitzen, während ich an ihm schnupperte.
    Dann aber nahm der Krieg eine schlimme Wende, und wir waren dort nicht mehr sicher, also beschloß mein Vater, meine Mutter und mich nach Japan zurückzuschicken, bevor es zu spät wäre. Zusammen mit vielen anderen fuhren wir mit dem Zug von Hsin-ching nach Korea, wo ein besonderes Schiff auf uns wartete. Mein Vater blieb in Hsin-ching. Als ich ihn zum letztenmal sah, stand er in der Bahnhofshalle und winkte uns nach. Ich streckte den Kopf aus dem Fenster und sah ihn immer kleiner und kleiner werden, bis er zuletzt im Menschengewühl auf dem Bahnsteig verschwand. Kein Mensch weiß, was aus ihm geworden ist. Ich nehme an, er wurde von den Sowjets gefangengenommen und zur Zwangsarbeit nach Sibirien geschickt und starb dort, wie so viele andere. Wahrscheinlich liegt er in irgendeinem kalten, einsamen Stück Erde, in einem namenlosen Grab. Ich erinnere mich noch immer an jede Einzelheit des Zoos von Hsin-ching. Ich kann ihn mir vollständig ins Gedächtnis zurückrufen - jeden Weg, jedes Tier. Wir wohnten in der Dienstwohnung des Chefveterinärs auf dem Tiergartengelände. Alle Tierpfleger kannten mich, und sie ließen mich überallhin, wohin ich wollte, selbst an Feiertagen, an denen der Zoo geschlossen war.«
    Muskat schloß die Augen, um sich die Szenerie ins Bewußtsein zurückzurufen. Ich wartete schweigend darauf, daß sie mit ihrer Erzählung fortfuhr. »Trotzdem könnte ich nicht beschwören, daß der Zoo wirklich so war, wie ich ihn in Erinnerung habe. Wie soll ich es ausdrücken? Manchmal habe ich das Gefühl, die Erinnerung ist einfach zu lebhaft, verstehen Sie? Und wenn ich erst einmal anfange, so zu denken … Je länger ich darüber nachdenke, desto weniger kann ich sagen, inwieweit diese lebhaften Bilder Wirklichkeit waren und wieviel davon meiner Phantasie entstammt. Ich fühle mich dann so, als wäre ich in ein Labyrinth geraten. Ist Ihnen das auch schon mal passiert?«
    Es war mir noch nie passiert. »Wissen Sie, ob es den Zoo in Hsin-ching noch gibt?« fragte ich.
    »Da bin ich mir nicht sicher«, sagte Muskat und berührte die Spitze ihres Ohrrings. »Ich habe einmal gehört, er sei nach dem Krieg geschlossen worden, aber ob er noch immer geschlossen ist, könnte ich nicht sagen.«
     
    Sehr lange blieb Muskat Akasaka der einzige Mensch auf der Welt, mit dem ich reden konnte. Wir trafen uns ein-, zweimal in der Woche, setzten uns im Restaurant einander gegenüber und unterhielten uns. Nach mehreren solchen Begegnungen hatte ich entdeckt, daß sie eine ganz ausgezeichnete Zuhörerin war. Sie begriff rasch, und sie verstand es, den Fluß der Erzählung durch geschickt eingeworfene Fragen und Kommentare in bestimmte Bahnen zu lenken. Um ihr Unbehagen zu ersparen, achtete ich vor jedem unserer Treffen peinlich darauf, daß meine Kleidung sauber und sorgfältig zusammengestellt war. Ich zog ein blütenreines Hemd an, frisch aus der Reinigung, und wählte die Krawatte aus, die am besten dazu paßte. Meine Schuhe waren stets blankgeputzt und ohne ein Stäubchen. Wenn sie mich sah, musterte sie mich zunächst von Kopf bis Fuß mit der Miene eines Küchenchefs, der Gemüse aussucht. Wenn ihr irgend etwas mißfiel, ging sie schnurstracks mit mir in eine Boutique und kaufte mir den passenden Artikel. Wenn möglich, mußte ich ihn dann an Ort und Stelle gegen den beanstandeten austauschen. Was Kleidung anging, gab sie sich mit nichts weniger als dem Vollkommenen zufrieden.
    In Folge davon wuchs meine Garderobe. Langsam, aber stetig, drangen neue Anzüge, neue Jacketts und neue Hemden in das Territorium ein, in dem einst Kumikos Röcke und Kleider unumschränkt geherrscht hatten. Binnen kurzem wurde es im Schrank eng. Also faltete ich Kumikos Sachen zusammen, legte sie, mit Mottenkugeln gespickt, in Kartons und verstaute sie in einem Abstellraum. Wenn sie je zurückkam, würde sie sich bestimmt fragen, was in aller Welt in ihrer Abwesenheit vorgefallen war.
    Ich brauchte lange, um Muskat die Sache mit Kumiko nach und nach zu erklären - daß ich sie retten und zurückholen mußte. Sie stützte den Ellbogen auf den Tisch und das Kinn in die Hand und sah mich eine Weile an. »Und von wo müssen Sie Kumiko retten? Hat der Ort vielleicht einen Namen?« Ich suchte im Raum nach Worten; aber im Raum waren sie nicht. Ebensowenig unter der Erde. »Irgendwo ganz weit weg«, sagte ich. Muskat lächelte. »Das erinnert

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