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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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braucht, sind nie da.«
    Zwecks näherer Erörterung der Sachlage rief der Direktor den leitenden Veterinär des Zoos zu sich, und dieser erklärte dem Leutnant, der Zoo verfüge nur über eine sehr geringe Menge Gift, wahrscheinlich nicht einmal genug, um ein Pferd zu töten. Der Tierarzt war ein großgewachsener, gutaussehender Enddreißiger mit einem blauschwarzen Fleck von der Größe und Form einer Säuglingshand auf der rechten Wange. Ein Muttermal, nahm der Leutnant an. Der Leutnant rief vom Büro des Zoodirektors aus das Hauptquartier an und bat um weitere Instruktionen, aber seit die Sowjets vor mehreren Tagen die Grenze überquert hatten, befand sich das Hauptquartier der Kwantung-Armee in höchst chaotischem Zustand, und die meisten hochrangigen Offiziere waren verschwunden. Die wenigen verbliebenen hatten alle Hände voll damit zu tun, Stöße von wichtigen Dokumenten im Hof zu verbrennen oder Truppen zum Stadtrand zu führen und sie Panzersperrgräben ausheben zu lassen. Der Major, der dem Leutnant seine Befehle erteilt hatte, war nirgends aufzutreiben. Und so hatte der Leutnant keine Ahnung, wo sie das benötigte Gift herbekommen sollten. Wer mochte in der Kwantung-Armee für Gift zuständig gewesen sein? Sein Anruf wurde von einer Abteilung zur nächsten weitergeleitet, bis sich schließlich ein Oberst des Sanitätskorps meldete und den Leutnant anschnauzte: »Sie dämlicher Kerl! Das ganze gottverdammte Land geht den Bach runter, und sie kommen mir mit einem gottverdammten Scheißzoo?! Wen schert das denn?« Ja, wen, dachte der Leutnant. Ihn selbst mit Sicherheit nicht. Mit niedergeschlagener Miene legte er den Hörer auf und beschloß, die Hoffnung auf Gift zu vergessen. Jetzt standen ihm zwei Möglichkeiten zur Auswahl. Er konnte es sich überhaupt aus dem Kopf schlagen, irgendwelche Tiere zu töten, und mit seinen Männern abrücken, oder sie konnten die Sache mit Kugeln erledigen. Mit beidem würde er gegen seine Befehle verstoßen, aber am Ende entschied er sich fürs Schießen. So würde man ihn später vielleicht wegen Vergeudung wertvoller Munition zusammenstauchen, aber zumindest hätte er den Zweck seines Auftrags - die gefährlicheren Tiere zu »liquidieren« - erfüllt. Wenn er sich andererseits dazu entschloß, die Tiere nicht zu töten, konnte er wegen Befehlsverweigerung vor ein Kriegsgericht gestellt werden. Es war zwar sehr die Frage, ob in diesem Stadium des Krieges überhaupt noch Kriegsgerichtsverhandlungen stattfinden würden, aber Befehl war schließlich Befehl. Solange die Armee noch existierte, mußten ihre Befehle auch ausgeführt werden.
    Wenn’s möglich wäre, würde ich lieber keine Tiere töten, sagte sich der Leutnant ehrlich. Aber dem Zoo gingen die Futtervorräte aus, und die meisten Tiere (besonders die großen) litten bereits an Unterernährung. Die Situation konnte nur noch schlimmer werden - jedenfalls bestimmt nicht besser. Vielleicht tat man den Tieren sogar einen Gefallen, wenn man sie erschoß - das war wenigstens ein schneller, sauberer Tod. Und sollten im Verlauf schwerer Gefechte oder Luftangriffe ausgehungerte Tiere in die Straßen der Stadt entkommen, wäre eine Katastrophe unvermeidlich.
    Der Direktor übergab dem Leutnant die Liste der zur »Notliquidierung« bestimmten Tiere, die er auf Anweisung des Hauptquartiers erstellt hatte, sowie einen Plan des zoologischen Gartens. Der Tierarzt mit dem Mal an der Wange und zwei chinesische Arbeiter sollten das Exekutionskommando begleiten. Der Leutnant warf einen Blick auf die Liste und stellte zu seiner Erleichterung fest, daß sie kürzer war, als er erwartet hatte. Unter den zur »Liquidierung« bestimmten Tieren fand er allerdings auch zwei Indische Elefanten. Elefanten? dachte der Leutnant und runzelte die Stirn. Wie zum Teufel sollen wir Elefanten töten? So wie der Zoo angelegt war, würden sie als erstes die Tiger »liquidieren«. Die Elefanten würde man sich auf alle Fälle zuletzt vornehmen. Aus der Informationstafel am Tigerkäfig ging hervor, daß das Pärchen in der Mandschurei, im Großen Chingan, gefangen worden war. Der Leutnant teilte jedem Tiger vier Männer zu und gab Befehl, auf das Herz zu zielen - wo sich das befand, war ihm freilich ebenso ein Rätsel wie vieles andere. Ach was, wenigstens eine Kugel würde schon ins Schwarze treffen. Als acht Männer gleichzeitig ihre 38er Gewehre mit einem ominösen trockenen Klacken durchluden, schlug die ganze Atmosphäre des Ortes um. Die Tiger

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