Mister Aufziehvogel
Panzerdivisionen, die das deutsche Heer vernichtend geschlagen hatten und nun, gut ausgerüstet und kampfbereit, auf dem Schienenweg in Fernost eintrafen, war beinahe abgeschlossen. Der Zusammenbruch Mandschukuos stand unmittelbar bevor. Jeder wußte das, und am allerbesten wußten es die Generäle der Kwantung-Armee. Und so zogen sie das Hauptkontingent der Streitkräfte weit hinter die Front zurück, womit sie die kleinen Grenzgarnisonen und die zivilen japanischen Siedler praktisch sich selbst überließen. Diese unbewaffneten Bauern wurden von der Sowjetarmee, die zu schnell vorrückte, um Gefangene machen zu können, abgeschlachtet. Viele Frauen zogen der drohenden Vergewaltigung den Massenselbstmord vor- oder wurden dazu gezwungen. Die Grenzgarnisonen verschanzten sich im Betonbunker »Festung für die Ewigkeit« und leisteten erbitterten Widerstand, aber ohne Nachschub und Rückendeckung, wie sie waren, wurden sie von der sowjetischen Übermacht aufgerieben. Etliche Angehörige des Generalstabs und andere hochrangige Offiziere sorgten dafür, daß sie in das neue Hauptquartier in Tonghua, nahe der koreanischen Grenze, »verlegt« wurden, und der Marionettenkaiser Henry Pu Yi und seine Angehörigen packten ihre Siebensachen und flohen per Privatzug aus der Hauptstadt. Die meisten chinesischen Soldaten der Armee von Mandschukuo, die den Auftrag hatte, die Hauptstadt zu verteidigen, desertierten, sobald sie erfuhren, daß die Sowjets die Grenze überquert hatten, oder aber sie meuterten und erschossen ihre japanischen Offiziere. Sie dachten nicht daran, im Kampf gegen die weit überlegene sowjetische Streitmacht ihr Leben für Japan hinzugeben. In Folge dieser miteinander zusammenhängenden Entwicklungen geriet die Hauptstadt von Mandschukuo, die »Besondere Neue Hauptstadt, Hsin-ching«, die der moderne japanische Staat zu seinem Ruhm mitten in der Wildnis erbaut hatte, in ein seltsames politisches Vakuum. Zur Vermeidung unnötigen Blutvergießens, meinten die hohen chinesischen Beamten von Mandschukuo, solle Hsin-ching zur offenen Stadt erklärt und kampflos übergeben werden, aber die Kwantung-Armee lehnte dies ab.
Die zum Zoo abkommandierten Soldaten hatten sich mit ihrem Schicksal abgefunden. In wenigen Tagen würden sie im Kampf gegen die Sowjetarmee ihr Leben lassen, nahmen sie an (in Wirklichkeit sollten sie nach der Entwaffnung zur Zwangsarbeit - und im Falle von dreien unter ihnen, zum Sterben - in sibirische Kohlenbergwerke geschickt werden). Sie konnten nur noch darum beten, daß ihr Tod nicht allzu qualvoll sein würde. Keiner von ihnen hatte Lust, unter den Ketten eines langsam vorrückenden Panzers zermalmt, in einem Schützengraben von Flammenwerfern geröstet zu werden oder mit einer Kugel im Bauch zu verenden. Da war es besser, einen Schuß in den Kopf oder ins Herz abzubekommen. Aber zunächst mußten sie diese Zootiere töten.
Wenn irgend möglich, sollten sie die Tiere mit Gift töten, um die wenigen Patronen, die sie noch hatten, nicht zu vergeuden. So jedenfalls lauteten die Instruktionen, die der für die Operation verantwortliche junge Leutnant von seinem Vorgesetzten erhalten hatte; dem Zoo, hatte es geheißen, sei bereits eine ausreichende Menge Gift zugeteilt worden. Der Leutnant führte acht vollbewaffnete Männer zum Zoo - vom Hauptquartier aus ein zwanzigminütiger Spaziergang. Seit Beginn der sowjetischen Invasion waren die Tore des Tiergartens geschlossen geblieben, und vor dem Haupteingang standen zwei Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett Wache. Der Leutnant zeigte ihnen seinen Befehl und führte seine Männer hinein.
Der Zoodirektor bestätigte, daß er die Anordnung erhalten habe, im Notfall alle größeren Raubtiere zu »liquidieren« und dazu Gift zu verwenden, allerdings, erklärte er, sei die Giftlieferung niemals eingetroffen. Als der Leutnant das hörte, wußte er erst einmal nicht weiter. Er war Buchhalter, der Zahlmeisterei zugeteilt, und bevor er zu diesem Sondereinsatz von seinem Schreibtisch im Hauptquartier weggeholt worden war, hatte er noch niemals einen Trupp Männer unter sich gehabt. Er hatte seine Dienstpistole aus der Schublade hervorkramen müssen, und da er sie seit Jahren nicht mehr geputzt und geölt hatte, war er nicht einmal sicher, daß sie funktionierte.
»So ist das immer mit der Verwaltungsarbeit, Herr Leutnant«, sagte der Zoodirektor, ein mehrere Jahre älterer Mann, der ihn mit einem Anflug von Mitgefühl ansah. »Die Dinge, die man
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