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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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mich irgendwie an die Zauberflöte. Sie wissen schon: Mozart. Mit Hilfe einer Zauberflöte und eines magischen Glockenspiels müssen sie da eine Prinzessin retten, die irgendwo weit weg in einem Schloß gefangengehalten wird. Ich liebe diese Oper. Ich weiß nicht, wie viele Male ich sie schon gesehen habe. Ich kenne den Text auswendig: ›Ich Vogelfänger bin bekannt bei Alt und Jung im ganzen Land.‹ Papageno. Schon mal gesehen?« Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte Die Zauberflöte noch nie gesehen. »In der Oper werden der Prinz und der Vogelfänger von drei Kindern, die auf einer Wolke reiten, zum Schloß geführt. Aber eigentlich geht es um einen Kampf zwischen dem Reich des Tages und dem Reich der Nacht. Das Reich der Nacht versucht, dem Reich des Tages die Prinzessin zu entreißen. Nach einigen Verwicklungen wissen die Helden nicht mehr, welche Seite wohl die ›richtige‹ ist - wer gefangengehalten wird und wer nicht. Natürlich bekommt der Prinz am Ende die Prinzessin, Papageno bekommt Papagena, und die Bösen stürzen in die Hölle.« Muskat strich mit dem Finger über den Rand ihres Glases. »Aber Sie haben im Moment weder einen Vogelfänger noch eine Zauberflöte oder ein wundertätiges Glockenspiel.«
    »Aber ich habe einen Brunnen«, sagte ich.
     
    Immer, wenn ich vom Reden müde wurde oder mit meiner Geschichte nicht mehr weiterkam, weil mir die Worte fehlten, gönnte mir Muskat eine Pause und erzählte weiter von ihrer Kindheit und Jugend, und ihre Geschichten erwiesen sich als viel länger und verschlungener als meine. Im Gegensatz zu mir zwang sie ihren Geschichten auch keine bestimmte Ordnung auf, sondern sprang von Thema zu Thema, wie ihre Stimmung es ihr gerade eingab. Ohne ein Wort der Erklärung kehrte sie die chronologische Abfolge der Ereignisse um oder rückte plötzlich jemanden in den Mittelpunkt des Geschehens, den sie noch nie erwähnt hatte. Um zu erraten, in welche Phase ihres Lebens die Episode, die sie gerade erzählte, gehörte, war ich gezwungen, scharfsinnige Deduktionen anzustellen - und selbst das nützte in manchen Fällen nichts. Sie schilderte Ereignisse, die sie mit eigenen Augen gesehen hatte, und daneben solche, die sie keineswegs miterlebt hatte.
     
    Sie töteten die Leoparden. Sie töteten die Wölfe. Sie töteten die Bären. Die Bären zu erschießen dauerte am längsten. Selbst nachdem sie Dutzende von Gewehrkugeln abbekommen hatten, warfen sich die beiden gewaltigen Tiere noch gegen die Stangen ihres Käfigs und brüllten die Männer geifernd und mit entblößten Zähnen an. Anders als die Raubkatzen, die ihr Schicksal bereitwilliger hingenommen hatten (so hatte es zumindest ausgesehen), schienen die Bären außerstande zu sein, die Tatsache zu begreifen, daß sie getötet wurden. Darum vielleicht brauchten sie länger als notwendig, um sich von jenem vorübergehenden Zustand zu lösen, den man Leben nennt. Als es den Soldaten endlich gelungen war, in den Bären alle Lebenszeichen auszulöschen, waren sie so erschöpft, daß sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnten. Der Leutnant legte den Sicherungshebel seiner Pistole wieder um und wischte sich mit seiner Mütze über die schweißnasse Stirn. In der tiefen Stille, die dem Gemetzel folgte, versuchten mehrere Soldaten ihre Beschämung zu verbergen, indem sie geräuschvoll auf den Boden spuckten. Überall zu ihren Füßen lagen leere Patronenhülsen, verstreut wie Zigarettenstummel. Ihre Ohren dröhnten noch vom Geknatter der Gewehre. Der junge Soldat, den siebzehn Monate später in einem Kohlenbergwerk bei Irkutsk ein sowjetischer Soldat erschlagen würde, wandte die Augen von den Bärenleichen ab und atmete mehrmals tief durch. Er bemühte sich verzweifelt, die Übelkeit, die ihm schon in der Kehle saß, wieder zurückzudrängen. Am Ende brachten sie die Elefanten dann doch nicht um. Als sie den Tieren gegenüberstanden, ließ sich nicht übersehen, daß sie einfach zu groß waren, daß sich die Gewehre der Soldaten vor ihnen wie alberne Spielzeuge ausmachten. Der Leutnant überlegte eine Weile und beschloß dann, die Elefanten in Frieden zu lassen. Als die Männer das hörten, seufzten sie erleichtert auf. So seltsam es auch klingen mag - aber vielleicht klingt es gar nicht so seltsam -, sie dachten in diesem Moment alle das gleiche: daß es viel leichter sei, Menschen auf dem Schlachtfeld zu töten als eingesperrte Tiere, auch wenn man auf dem Schlachtfeld am Ende selbst getötet werden konnte.
    Die

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