Mister Aufziehvogel
hinsah, konnte sie leuchtende Tätowierungen auf ihren Armen erkennen. Wenn sie ganz genau hinsah, konnte sie überhaupt viel erkennen.
An Geschützen besaß das Unterseeboot lediglich eine Bordkanone und ein Maschinengewehr, aber die waren mehr als ausreichend, um den zum Transportschiff umgebauten, rostigen alten Frachter zu versenken. Das Unterseeboot verfügte nur über eine begrenzte Anzahl von Torpedos, und die mußten für den Fall einer Begegnung mit bewaffneten Geschwadern aufgespart werden (falls Japan solche noch besaß). Das war eine eiserne Regel.
Muskat klammerte sich an die Reling und sah zu, wie das schwarze Rohr der Bordkanone langsam in ihre Richtung schwenkte. Die glühende Sommersonne hatte das eben noch triefende Geschütz in wenigen Augenblicken getrocknet. Eine so riesige Kanone hatte Muskat noch nie gesehen. In Hsin-ching hatte sie häufig eine Art Feldhaubitze der japanischen Armee gesehen, aber die war im Vergleich zu der riesigen Bordkanone des U-Boots nichts gewesen. Das U-Boot signalisierte dem Frachter mit dem Blinkgerät: Beidrehen. Schiff wird versenkt. Alle Passagiere sofort in die Rettungsboote. (Muskat konnte die Lichtsignale natürlich nicht entschlüsseln, aber im nachhinein begriff sie alles genau.) An Bord des Frachters, der auf Anordnung der Armee inmitten der Kriegswirren in aller Eile, lediglich durch minimale Umbauten, zum Transportschiff umfunktioniert worden war, gab es nicht genug Rettungsboote. Tatsächlich gab es nur zwei Boote für über fünfhundert Passagiere und Besatzungsmitglieder. Schwimmwesten oder Rettungsringe waren an Bord kaum vorhanden.
An die Reling geklammert, starrte Muskat mit angehaltenem Atem gebannt auf das stromlinienförmige U-Boot. Der Stahlrumpf glänzte wie neu, ohne den winzigsten Rostfleck. Sie sah die weiß aufgemalten Ziffern am Kommandoturm, die Radarantenne, die darüber kreiste. Sie sah den strohblonden Offizier mit dunkler Brille. Dieses Unterseeboot ist vom Grund des Ozeans aufgetaucht, um uns alle zu töten, dachte sie, aber daran ist nichts ungewöhnlich, das könnte jederzeit passieren. Es hat nichts mit dem Krieg zu tun; es könnte jedem überall passieren. Alle meinen, es passiert wegen des Krieges. Aber das stimmt nicht. Der Krieg ist nur eines von den Dingen, die passieren können.
Angesichts des Unterseeboots und seiner riesigen Kanone empfand Muskat keine Furcht. Ihre Mutter schrie ihr ständig etwas zu, aber die Worte ergaben keinen Sinn. Dann spürte sie, wie jemand sie bei den Handgelenken packte und sie wegzuziehen versuchte. Aber ihre Hände klammerten sich weiter an der Reling fest. Das dröhnende Stimmengewirr ringsum wich immer mehr, als drehte jemand ein Radio leiser. Ich bin so müde, dachte sie. So müde. Warum bin ich nur so müde? Sie schloß die Augen, und ihr Bewußtsein schoß davon, ließ das Deck weit hinter sich.
Muskat sah japanische Soldaten, die den weitläufigen Zoo abgingen und jedes Tier erschossen, das Menschen gefährlich werden konnte. Der Offizier gab das Kommando, und die Geschosse der Gewehre Modell 38 durchschlugen die glatte Haut eines Tigers und zerfetzten seine Eingeweide. Der Sommerhimmel war blau, und aus den umgebenden Bäumen regneten die Schreie der Zikaden wie ein plötzlicher Schauer herab.
Die Soldaten sprachen kein Wort. Aus ihren sonnenverbrannten Gesichtern war alles Blut gewichen, so daß sie wie Bildnisse auf antiken Urnen aussahen. In ein paar Tagen - spätestens, in einer Woche - würde das Hauptkontingent der sowjetischen Heeresgruppe Fernost Hsin-ching erreichen. Es bestand keine Möglichkeit, den Vormarsch aufzuhalten. Bereits seit Beginn des Krieges waren die Elitetruppen und das ehemals reichliche Gerät der Kwantung-Armee zur Unterstützung der sich ständig verlängernden Südfront abgezogen worden, und jetzt lag der größere Teil von beiden auf dem Grund des Meeres oder verrottete in den Tiefen des Dschungels. Es gab keine Panzer mehr. Es gab keine Panzerabwehrkanonen mehr. Die Lkws für den Truppentransport waren bis auf einige wenige defekt, und es gab keine Ersatzteile. Durch eine allgemeine Mobilmachung wäre noch immer eine beträchtliche Erhöhung der Truppenstärke zu erreichen gewesen, aber es gab nicht einmal genügend alte Gewehre, um jeden Mann zu bewaffnen, auch nicht genügend Munition, um jedes Gewehr zu laden. Und so war aus der großen Kwantung-Armee, dem »Bollwerk des Nordens«, ein Papiertiger geworden. Die Verlegung der stolzen sowjetischen
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