Mister Aufziehvogel
oben zu kommen, aus der Krone eines nahen Baumes. Der Soldat drehte sich um und spähte in die Richtung des Geräusches, konnte aber nichts entdecken. Eine mächtige, dichtbelaubte Ulme verdunkelte den Boden mit ihrem kühlen, scharfumrissenen Schatten.
Der Soldat blickte zum Leutnant hinüber, als erwarte er weitere Anweisungen. Der Offizier nickte, befahl ihm, aus dem Käfig herauszukommen, und entfaltete wieder den Plan des Zoos. Das wären also die Tiger gewesen. Als nächstes nehmen wir uns die Leoparden vor. Dann vielleicht die Wölfe. Um die Bären müssen wir uns auch noch kümmern. Über die Elefanten zerbrechen wir uns erst den Kopf, wenn die anderen erledigt sind, dachte er. Und dann wurde ihm bewußt, wie heiß es war. »Verschnaufpause«, sagte er zu seinen Männern. »Trinkt einen Schluck Wasser.« Sie tranken aus ihren Feldflaschen. Dann schulterten sie ihre Gewehre, stellten sich in Marschordnung auf und zogen in Richtung Leopardenkäfig. Hoch oben in einem Baum zog der unbekannte Vogel mit dem eindringlichen Ruf immer weiter seine Feder auf. Die kurzärmligen Militärhemden der Männer waren an Brust und Rücken schwarz vor Schweiß. Während dieser Trupp vollbewaffneter Soldaten dahinmarschierte, hallte das Scheppern aller möglichen Metallgegenstände durch den menschenleeren Zoo. Die an den Gitterstäben ihrer Käfige hängenden Affen zerrissen die Luft mit unheilkündenden Schreien, hektische Warnungen an alle übrigen Tiere des Zoos, und jedes fiel auf seine eigene, charakteristische Weise in den Chor ein. Die Wölfe schickten langgezogene Heultöne gen Himmel, die Vögel steuerten wildes Flügelschlagen bei, irgendwo warf sich ein großes Tier mit voller Wucht gegen das Gitter seines Käfigs, wie um zu drohen. Ein faustförmiger Wolkenklumpen tauchte aus heiterem Himmel auf und verbarg für eine Weile die Sonne. An diesem Augustnachmittag dachten alle - Menschen, Tiere - an den Tod. Heute würden die Männer Tiere töten; morgen würden sowjetische Truppen die Männer töten. Wahrscheinlich.
Wir saßen uns stets am selben Tisch im selben Restaurant gegenüber und unterhielten uns. Sie war dort Stammgast, und natürlich übernahm immer sie die Rechnung. Der rückwärtige Teil des Restaurants bestand aus kleinen Nischen, so daß man von keinem Tisch aus hören konnte, was an einem anderen geredet wurde. Pro Abend und Tisch wurde jeweils nur eine Reservierung entgegengenommen, und so konnten wir uns so lange unterhalten, wie wir wollten - bis das Lokal schloß -, ohne von jemandem gestört zu werden; selbst die Kellner kamen nur an den Tisch, um ein Gericht zu servieren oder wieder abzuräumen. Muskat bestellte immer eine Flasche Burgunder eines bestimmten Jahrgangs und ließ immer die halbe Flasche stehen.
»Ein Vogel, der eine Feder aufzieht?« fragte ich und sah von meinem Teller auf. »Ein Vogel, der eine Feder aufzieht?« wiederholte Muskat genau in meinem Tonfall; dann kräuselte sie ein wenig die Lippen. »Das verstehe ich nicht. Wovon reden Sie?«
»Haben Sie nicht gerade von einem Vogel gesprochen, der eine Feder aufzieht?« Sie schüttelte langsam den Kopf. »Hmm. Nicht, daß ich wüßte. Ich glaube nicht, daß ich irgend etwas von einem Vogel gesagt habe.«
Es war hoffnungslos, merkte ich. So ging es immer, wenn sie ihre Geschichten erzählte. Ich fragte sie auch nicht nach dem Mal. »Dann sind Sie also in der Mandschurei geboren?« fragte ich. Wieder schüttelte sie den Kopf. »Geboren bin ich in Yokohama. Wir zogen in die Mandschurei, als ich drei war. Mein Vater lehrte an einem veterinärmedizinischen Institut, aber als die Stadtverwaltung von Hsin-ching für den neuen Zoo, der dort gebaut werden sollte, einen leitenden Veterinär aus Japan anforderte, meldete er sich freiwillig für den Posten. Meine Mutter war dagegen, sie wollte das geregelte Leben und die Sicherheit, die sie in Japan hatten, nicht aufgeben und ans Ende der Welt ziehen, aber mein Vater bestand darauf. Vielleicht wollte er seine Fähigkeiten in einem größeren und offeneren Land als Japan auf die Probe stellen. Ich war noch so klein, daß es keine Rolle spielte, wo ich war, aber ich fand es herrlich, im Zoo zu wohnen. Es war ein wunderbares Leben. Mein Vater roch immer nach den Tieren. All die verschiedenen Tiergerüche vermischten sich zu einem einzigen, und jeden Tag war er ein wenig anders, wie wenn man bei einem Parfüm den Anteil der einzelnen Ingredienzien verändern würde. Wenn er abends nach Haus
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