Mister Aufziehvogel
mit einer Spitzengeschwindigkeit von selten über siebzig Stundenkilometern. Ein weltweit seltenes Dasein für einen Porsche 911.
Muskat übte ihre Tätigkeit über sieben Jahre lang aus und verlor während dieser Zeit nur drei Klientinnen: Die erste kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben; die zweite wurde wegen eines kleineren Verstoßes gegen die Regeln auf Dauer ausgeschlossen; und die dritte zog im Zusammenhang mit der Arbeit ihres Mannes »weit weg«. An ihre Stelle traten vier neue Klientinnen, wieder lauter faszinierende Frauen mittleren Alters mit echten Modellkleidern und falschen Namen. Die Arbeit als solche änderte sich während der sieben Jahre nicht. Muskat nahm weiterhin an ihren Klientinnen »Änderungen« vor, und Zimt hielt weiterhin das Atelier sauber, führte die Bücher und fuhr seinen Porsche. Es war keinerlei Fortschritt, keinerlei Rückschritt zu verzeichnen, nur das allmähliche Älterwerden aller Beteiligten. Muskat ging auf die Fünfzig zu, und Zimt wurde zwanzig. Zimt schien Freude an seiner Arbeit zu haben, aber Muskat litt unter einem immer stärker werdenden Gefühl der Ohnmacht. Jahr um Jahr »änderte« sie immer wieder das »Etwas«, das jede ihrer Klientinnen in sich trug. Sie begriff nie ganz, was sie eigentlich für sie tat, aber sie fuhr fort, ihr Bestes zu tun. Die »Etwasse« allerdings verschwanden nie endgültig. Muskat konnte sie nicht ausmerzen; ihre Heilkräfte erreichten nie mehr, als die Aktivität des »Etwas« für eine Weile zu bremsen. Binnen weniger (in der Regel drei bis höchstens zehn) Tage kam jedes von ihnen wieder zum Vorschein, und auch wenn sie kurzfristig scheinbar immer wieder zurückgingen, war es nicht zu übersehen, daß sie auf lange Sicht wuchsen - wie Krebsgeschwüre. Muskat konnte spüren, wie sie unter ihren Händen wuchsen. Sie sagten zu ihr: Du vergeudest deine Zeit; was du auch tust, am Ende gewinnen wir doch. Und sie hatten recht. Muskat hatte keine Hoffnung, je zu siegen. Sie konnte den Vormarsch der »Etwasse« lediglich verlangsamen, ihren Klientinnen ein paar Tage Frieden schenken.
Muskat fragte sich oft: »Haben es auch andere Frauen? Tragen etwa alle Frauen auf der Welt dieses ›Etwas‹ in sich? Und warum sind alle, die hierherkommen, Frauen mittleren Alters? Habe ich vielleicht auch ein ›Etwas‹ in mir?« Aber eigentlich wollte Muskat die Antworten auf ihre Fragen gar nicht wissen. Sicher war nur, daß die Umstände sich irgendwie verschworen hatten, sie nicht mehr aus ihrem Anproberaum herauszulassen. Es gab Menschen, die sie brauchten, und solange sie gebraucht wurde, konnte sie nicht hinaus. Zuweilen wurde ihr Gefühl von Ohnmacht abgrundtief und übermächtig, und dann fühlte sie sich wie eine leere Hülse. Sie nutzte sich ab, ging in einem dunklen Nichts unter. Während solcher Phasen vertraute sie sich ihrem schweigsamen Sohn an, und Zimt lauschte dann aufmerksam den Worten seiner Mutter und nickte. Er sagte nie etwas, aber so zu ihm zu sprechen gab ihr ein seltsames Gefühl von Frieden. Sie spürte dann, daß sie nicht ganz allein war, und nicht völlig machtlos. Merkwürdig, dachte sie: Ich heile andere, und Zimt heilt mich. Aber wer heilt Zimt? Ist er ein schwarzes Loch, das alles Leid und alle Einsamkeit aufzusaugen vermag? Einmal - und nur dieses eine Mal - hatte sie ihm die Hand auf die Stirn gelegt, wie sie es tat, wenn sie an ihren Klientinnen »Änderungen« vornahm, und versucht, sein Inneres zu erforschen. Aber sie hatte nichts gespürt.
Bald wurde Muskat bewußt, daß sie sich danach sehnte, ihren Beruf aufzugeben. »Ich habe nicht mehr viel Kraft übrig. Wenn ich so weitermache, bin ich über kurz oder lang völlig ausgebrannt. Dann bleibt mir überhaupt nichts mehr.« Aber es herrschte weiter ein dringender Bedarf an ihren »Änderungsarbeiten«. Sie brachte es nicht über sich, ihre Klientinnen nur des eigenen Wohlbefindens wegen im Stich zu lassen.
Im Sommer dieses Jahres fand Muskat einen Nachfolger. In dem Augenblick, da sie das Mal auf der Wange des jungen Mannes sah, der in Shinjuku vor einem Hochhaus saß, wußte sie es.
18
E INE DUMME LAUBFROSCHTOCHTER
(MAY KASAHARAS STANDPUNKT: 4)
Hallo mal wieder, Mister Aufziehvogel.
Es ist halb drei Uhr nachts. Alle meine Zimmernachbarinnen schlafen tief und fest, aber ich kann heute nacht nicht schlafen, drum bin ich noch auf und schreibe Ihnen diesen Brief. Ehrlich gesagt, schlaflose Nächte sind bei mir ungefähr so häufig wie magersüchtige
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