Mister Aufziehvogel
die eingefallenen Wangen.
Wenn es in Herrn Hondas Haus überhaupt etwas gab, was man als eindrucksvoll hätte bezeichnen können, so war es das riesige Farbfernsehgerät; in einem so winzigen Haus wirkte es geradezu überwältigend. Es war immer auf den staatlich subventionierten Sender NHK eingestellt. Ob dies daran lag, daß Herr Honda NHK bevorzugte oder daß er sich nicht die Mühe machen wollte, den Kanal zu wechseln, oder ob dieses Gerät überhaupt nur NHK empfing, konnte ich nicht ermitteln, aber jedenfalls sah er nie etwas anderes als NHK. Anstelle eines Ikebana oder einer Kalligraphie enthielt die Schmucknische des Empfangsraums diesen gigantischen Fernseher, und Herr Honda saß immer davor und mischte auf dem Tisch, der über der versenkten Feuerstelle stand, die Losstäbchen, während NHK unermüdlich Kochrezepte, Tips zur Pflege von Bonsais, Nachrichten und politische Diskussionen in den Raum dröhnte.
»Die Juristerei könnte das Falsche für dich sein, Söhnchen«, sagte Herr Honda eines Tages zu mir oder jemandem, der zwanzig Meter hinter mir stand.
»Könnte sie?«
»Ja, könnte sie. Das Gesetz regelt schließlich die Dinge dieser Welt. Die Welt, in der Schatten Schatten ist und Licht Licht, Yin Yin ist und Yang Yang, ich ich bin und er er. ›Ich bin ich und / Er ist er: / Herbstlicher Abend.‹ Aber du gehörst nicht zu dieser Welt, Söhnchen. Die Welt, zu der du gehörst, liegt über dieser oder unter dieser.«
»Was ist denn besser?« fragte ich aus reiner Neugier. »Darüber oder darunter?«
»Es ist nicht so, daß eines von beiden besser wäre«, sagte er. Nach einem kurzen Hustenanfall spuckte er einen Klumpen Schleim in ein Papiertaschentuch und musterte ihn aufmerksam, bevor er das Taschentuch zusammenknüllte und in den Papierkorb warf. »Es ist keine Frage von besser oder schlechter. Worauf es ankommt, ist, dem Fluß nicht zu widerstreben. Du steigst auf, wenn du aufsteigen sollst, und steigst ab, wenn du absteigen sollst. Wenn du aufsteigen sollst, such dir den höchsten Turm aus und kletter bis auf die Spitze. Wenn du absteigen sollst, such dir den tiefsten Brunnen und geh hinunter auf den Grund. Wenn der Fluß stockt, halt still. Wenn du dem Fluß widerstrebst, verdorrt alles. Wenn alles verdorrt, ist die Welt Finsternis. ›Ich bin er und / Er ist ich: / Frühlings-Dämmer.‹ Gib das Selbst auf, und du hast’s.«
»Ist das jetzt eine dieser Gelegenheiten, wo der Fluß stockt?« fragte Kumiko. »Wie war das?«
»IST DAS JETZT EINE DIESER GELEGENHEITEN, WO DER FLUSS STOCKT?« schrie Kumiko.
»Kein Fluß jetzt«, sagte Herr Honda vor sich hin nickend. »Jetzt gilt es stillzuhalten. Tut nichts. Seid nur vorsichtig mit Wasser. Irgendwann in der Zukunft könnte dieser junge Bursche hier im Zusammenhang mit Wasser echtes Leid erfahren. Wasser, das da fehlt, wo es sein sollte. Wasser, das da ist, wo es nicht sein sollte. Seid sehr, sehr vorsichtig mit Wasser.« Kumiko, die neben mir saß, nickte die ganze Zeit mit dem allergrößten Ernst, aber ich konnte sehen, daß sie sich sehr zusammennehmen mußte, um nicht loszulachen.
»Was für Wasser?« fragte ich. »Ich weiß es nicht«, sagte Herr Honda. »Wasser.«
Im Fernsehen erklärte irgendein Professor, der allgemein zu verzeichnende chaotische Gebrauch der japanischen Grammatik entspräche genau dem chaotischen Lebensstil der Menschen. »Strenggenommen können wir natürlich nicht von Chaos sprechen. Die Grammatik ist wie die Luft: Eine höhere Instanz könnte wohl versuchen, Regeln zu deren Gebrauch aufzustellen, aber die Leute werden sie nicht notwendigerweise befolgen.« Es klang interessant, aber Herr Honda redete unbeirrt weiter über Wasser.
»Ich sag’s euch ehrlich, ich hab wegen Wasser gelitten«, sagte er. »In Nomonhan gab’s kein Wasser. Die Front war eine einzige Katastrophe, und die Nachschubverbindungen waren abgeschnitten. Kein Wasser. Keine Essensrationen. Kein Verbandsmaterial. Keine Munition. Es war furchtbar. Die hohen Tiere in der Etappe hat nur eins interessiert: so schnell wie möglich Geländegewinne zu machen. Kein Mensch dachte an Nachschub. Drei Tage lang war ich fast völlig ohne Wasser. Wenn man einen Waschlappen über Nacht draußen ließ, hatte er sich am nächsten Morgen mit Tau vollgesogen. Dann konnte man ihn auswringen und ein paar Tropfen trinken, aber das war auch alles. Es gab einfach überhaupt kein Wasser. Es war so schlimm, daß ich sterben wollte. So durstig zu sein ist das Schlimmste,
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