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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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der Wertmaßstäbe seiner Welt. Hierarchie bedeutete ihm alles. Er beugte sich widerspruchslos jeder höheren Autorität und trampelte ohne zu zögern auf seinen Untergebenen herum. Weder Kumiko noch ich glaubten, daß ein solcher Mann einen armen vierundzwanzigjährigen Niemand wie mich, ohne Stellung oder Stammbaum oder auch nur anständige Abschlußnoten oder berufliche Aussichten, als Schwiegersohn akzeptieren würde. Wir gingen davon aus, daß ihre Eltern nein sagen würden und wir dann auf eigene Faust heiraten und unser eigenes Leben fuhren würden, ohne je wieder etwas mit ihnen zu tun zu haben. Trotzdem tat ich, was sich gehörte. Ich suchte Kumikos Eltern auf und bat in aller Form um die Hand ihrer Tochter. Den Empfang, der mir bereitet wurde, als kühl zu bezeichnen, wäre untertrieben - die Türen sämtlicher Kühlschränke der Welt schienen mit einem Schlag aufgeflogen zu sein.
    Daß sie uns zuletzt doch - widerwillig, aber in einer fast als wundersam zu bezeichnenden Kehrtwende - ihren Segen gaben, war ausschließlich Herrn Honda zu verdanken. Er ließ sich von ihnen alles, was sie über mich in Erfahrung gebracht hatten, erzählen und erklärte schließlich, wenn ihre Tochter heiraten solle, sei ich der bestmögliche Partner für sie; und wenn sie mich zu heiraten wünsche, könne ein Verbot dieser Eheschließung nur die schrecklichsten Folgen nach sich ziehen. Kumikos Eltern hatten damals unerschütterliches Vertrauen zu Herrn Honda, und so blieb ihnen nichts anderes übrig, als mich als Schwiegersohn zu akzeptieren.
    Trotzdem blieb ich immer der Außenseiter, der ungebetene Gast. Kumiko und ich besuchten sie zweimal im Monat, regelmäßig wie ein Uhrwerk, und speisten mit ihnen zu Abend. Es war jedesmal eine absolut grauenvolle Erfahrung, genau auf der Kippe zwischen sinnloser Selbstkasteiung und unmenschlicher Folter. Solang die Mahlzeit dauerte, hatte ich das Gefühl, der Eßtisch sei so lang wie eine Bahnhofshalle. Sie aßen und redeten über irgend etwas ganz hinten am anderen Ende, und ich war zu weit weg, um für sie überhaupt noch wahrnehmbar zu sein. Das ging ein Jahr so weiter, bis Kumikos Vater und ich eine heftige Auseinandersetzung hatten, worauf wir uns nie wieder sahen. Die Erleichterung, die das für mich bedeutete, grenzte an Glückseligkeit. Nichts kann einen Menschen so aufreiben wie eine sinnlose Anstrengung.
    Nach unserer Heirat jedoch bemühte ich mich eine ganze Zeitlang durchaus, unsere Beziehungen erträglich zu gestalten. Und ohne Zweifel waren die Bemühungen, die mich am wenigsten kosteten, diese monatlichen Besuche bei Herrn Honda.
    Alle Honorare, die Herr Honda dafür erhielt, wurden von Kumikos Vater entrichtet. Wir brauchten lediglich einmal im Monat mit einer großen Flasche Sake zu seinem Haus in Meguro hinauszupilgern, uns anzuhören, was er uns zu sagen hatte, und uns dann wieder zu verabschieden. Ganz einfach. Wir schlossen Herrn Honda auf Anhieb in unser Herz. Er war ein lieber alter Mann, und sein Gesicht leuchtete jedesmal auf, sobald er den Sake sah, den wir ihm mitgebracht hatten. Wir mochten alles an ihm - ausgenommen vielleicht seine Angewohnheit, wegen seiner Schwerhörigkeit den Fernseher bei voller Lautstärke laufen zu lassen.
    Wir besuchten ihn immer vormittags. Winters wie sommers saß er mit den Beinen in der eingelassenen Feuerstelle. Im Winter hatte er immer eine Steppdecke um die Taille gewickelt, in der sich die Wärme des Holzkohlenöfchens staute. Im Sommer hatte er weder Steppdecke noch Öfchen. Er war offenbar ein ziemlich berühmter Wahrsager, aber er führte ein sehr einfaches, ja asketisches Leben. Sein Haus war klein und die Vorhalle so winzig, daß sich darin gerade eine Person auf einmal die Schuhe auf- oder zubinden konnte. Die tatamis, mit denen die Zimmer ausgelegt waren, waren stark abgenutzt, und mehrere Fensterscheiben hielten nur noch durch Klebeband zusammen. Direkt nebenan befand sich eine Autoreparaturwerkstatt, in der immer jemand aus Leibeskräften brüllte. Herr Honda trug einen Kimono, der wie ein Mittelding zwischen einem Schlafrock und einer traditionellen Tagelöhnerjacke geschnitten war. Das Ding erweckte nicht den Eindruck, als wäre es in jüngerer Vergangenheit einmal gewaschen worden. Herr Honda lebte allein und hatte eine Zugehfrau, die täglich kam, um für ihn zu kochen und zu putzen. Aber aus irgendwelchen Gründen erlaubte er ihr nicht, sein Gewand zu waschen. Ein strähniger weißer Schnauzbart hing ihm über

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