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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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was es auf der Welt gibt. Ich war schon bereit, rauszulaufen und mir eine Kugel einzufangen. Die Männer, die einen Bauchschuß abbekamen, schrien nach Wasser. Manche von ihnen wurden vor Durst wahnsinnig. Es war die reine Hölle. Wir konnten einen breiten Fluß sehen, der direkt dort vor unseren Augen floß, mit mehr Wasser drin, als je einer hätte trinken können. Aber wir konnten nicht hin. Zwischen uns und dem Fluß war eine Linie von sowjetischen Panzern mit Flammenwerfern. Die MG-Stellungen starrten vor Läufen, wie Nadelkissen. Auf allen Anhöhen waren Scharfschützen postiert. Nachts schossen sie Leuchtraketen ab. Wir hatten nichts als 38er Infanteriegewehre und fünfundzwanzig Patronen pro Kopf. Trotzdem gingen die meisten meiner Kameraden zum Fluß. Sie haben’s nicht ausgehalten. Nicht einer von ihnen ist zurückgekommen. Sie sind alle gefallen. Du siehst also: Wenn du stillhalten solltest, halt still.«
    Er zog ein Papiertaschentuch heraus, schneuzte sich geräuschvoll und musterte das Resultat eingehend, bevor er das Taschentuch zerknüllte und in den Papierkorb warf.
    »Es kann manchmal schwierig sein, darauf zu warten, daß der Fluß losgeht«, sagte er, »aber wenn du warten mußt, mußt du warten. In der Zwischenzeit nimm einfach an, du wärst tot.«
    »Wollen Sie damit sagen, daß ich mich jetzt erst einmal totstellen sollte?« fragte ich. »Wie war das?«
    »WOLLEN SIE DAMIT SAGEN, DASS ICH MICH JETZT ERST EINMAL TOTSTELLEN SOLLTE?«
    »Genau das, Söhnchen. ›Sterben ist der einzige Weg/ Zu deiner Befreiung: / Nomonhan.‹«
    Er redete noch eine Stunde lang so weiter über Nomonhan. Wir saßen nur da und hörten zu. Wir waren dazu abkommandiert worden, »seine Lehre zu empfangen«, aber in diesem ganzen Jahr, in dem wir ihn einmal im Monat besuchten, gab er fast nie eine »Lehre« von sich, die wir hätten »empfangen« können. Er führte selten eine Orakelbefragung durch. Das einzige, worüber er redete, war der »Zwischenfall von Nomonhan«: darüber, wie eine Artilleriegranate dem Leutnant, der neben ihm stand, den halben Schädel weggerissen hatte; wie er auf einen sowjetischen Panzer gesprungen war und ihn mit einem Molotowcocktail in Brand gesetzt hatte; wie sie einen abgeschossenen sowjetischen Piloten in die Enge getrieben und abgeknallt hatten. Alle seine Geschichten waren interessant, ja, richtig spannend, aber wie alles andere tendierten auch sie dazu, bei der achten oder neunten Wiederholung einen Teil ihrer Faszination einzubüßen. Außerdem »erzählte« er seine Geschichten nicht nur, er schrie sie. Man hätte meinen können, er stehe an einem windigen Tag am Rand einer Klippe und brüllte sie uns über einen Abgrund hinweg zu. Es war, als säße man in einem heruntergekommenen Kino in der ersten Reihe und sähe sich einen alten Kurosawa-Film an. Nachdem wir sein Haus verlassen hatten, waren wir beide eine Zeitlang selbst so gut wie taub. Trotzdem machte es uns - oder zumindest mir - Spaß, Herrn Hondas Geschichten zu hören. Sie waren größtenteils recht blutrünstig, aber dadurch, daß sie aus dem Mund eines sterbenden alten Mannes in einem schmutzigen alten Kittel kamen, verloren die kriegerischen Details das Timbre des Realen. Sie klangen eher wie Märchen. Fast ein halbes Jahrhundert zuvor hatte Herrn Hondas Einheit im mandschurisch-mongolischen Grenzgebiet eine erbitterte Schlacht um ein kahles Stück Einöde ausgefochten. Bis ich durch Herrn Honda davon erfuhr, hatte ich so gut wie nichts über die Schlacht von Nomonhan gewußt. Und doch war es eine glorreiche Schlacht gewesen. Fast mit bloßen Händen hatten sie den überlegenen sowjetischen Panzergrenadierdivisionen verzweifelten Widerstand geboten, und sie waren zerschmettert worden. Eine Einheit nach der anderen war aufgerieben, restlos vernichtet worden. Manche Offiziere hatten ihren Truppen in eigener Verantwortung befohlen, sich zurückzuziehen, um dem sinnlosen Tod zu entgehen; sie wurden später von ihren Vorgesetzten zum Selbstmord gezwungen. Die meisten Soldaten, die in sowjetische Gefangenschaft geraten waren, weigerten sich nach dem Krieg, am Gefangenenaustausch teilzunehmen, weil sie befürchteten, wegen Feigheit vor dem Feind vor Gericht gestellt zu werden. Diese Männer düngten zuletzt mit ihren Knochen die mongolische Erde. Nach Verlust seines Gehörs ehrenhaft entlassen, wurde Herr Honda nach seiner Rückkehr in die Heimat Wahrsager.
    »Es war vermutlich das beste so«, sagte er. »Wenn ich mein

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