Mister Aufziehvogel
Gehör nicht verloren hätte, wäre ich wahrscheinlich im Südpazifik umgekommen. So ist es den meisten Soldaten ergangen, die Nomonhan überlebten. Nomonhan war eine große Blamage für die Kaiserliche Armee, also wurden die Überlebenden dorthin versetzt, wo es am wahrscheinlichsten war, daß sie sterben würden. Die Kommandeure, die die Sache mit Nomonhan verpatzt hatten, machten später Karriere im obersten Führungsstab. Ein paar von den Dreckskerlen sind nach dem Krieg sogar in die Politik gegangen. Aber die Jungs, die in der Schlacht das letzte für sie gegeben hatten, sind fast alle krepiert.«
»Inwiefern war Nomonhan eine solche Blamage für die Armee?« fragte ich. »Die Soldaten haben doch alle tapfer gekämpft, und viele von ihnen sind gefallen, oder? Warum mußten sie den Überlebenden so übel mitspielen?« Aber Herr Honda schien meine Frage nicht gehört zu haben. Er rührte und klapperte mit seinen Losstäbchen. »Ihr solltet euch vor Wasser in acht nehmen«, sagte er. Und damit endete die Sitzung dieses Tages.
Nach meinem Streit mit Kumikos Vater stellten wir unsere Besuche bei Herrn Honda ein. Es wäre mir unmöglich gewesen, weiterhin in sein Haus zu kommen und ihm zuzuhören und dabei zu wissen, daß mein Schwiegervater diese Stunden bezahlte; und ihn selbst zu bezahlen, hätten wir uns nicht leisten können. Wir kamen damals gerade eben über die Runden. Schließlich vergaßen wir Herrn Honda, so wie die meisten vielbeschäftigten jungen Leute dazu neigen, die meisten alten Leute zu vergessen.
In dieser Nacht mußte ich auch im Bett weiter an Herrn Honda denken. Sowohl er als auch Malta Kano hatten mir gegenüber von Wasser gesprochen. Herr Honda hatte mir eingeschärft, vorsichtig zu sein. Malta Kano hatte im Zusammenhang mit ihren Wasserforschungen auf der Insel Malta asketische Übungen getrieben. Vielleicht war es nicht mehr als ein Zufall, aber beide hatten Wasser offenbar als ein essentielles Problem betrachtet. Nun begann es, mir selbst Sorgen zu bereiten. Ich richtete meine Gedanken auf Bilder der Schlacht bei Nomonhan: die sowjetischen Panzer und Maschinengewehrstellungen und hinter ihnen der strömende Fluß. Der unerträgliche Durst. Ich konnte in der Dunkelheit das Rauschen des Flusses hören.
»Toru«, sagte Kumiko ganz leise, »bist du wach?«
»M-hm.«
»Wegen dem Schlips. Es ist mir grad eingefallen. Ich hab ihn im Dezember in die Reinigung gebracht. Er mußte gebügelt werden. Ich hab’s wohl vergessen.«
»Im Dezember? Kumiko, das ist mehr als sechs Monate her!«
»Ich weiß. Und du weißt, daß das sonst nicht meine Art ist, Dinge zu vergessen. Und es war auch noch ein so schöner Schlips.« Sie legte mir die Hand auf die Schulter. »Ich hab ihn zur Reinigung am Bahnhof gebracht. Meinst du, sie haben ihn noch?«
»Ich geh morgen vorbei. Wahrscheinlich ist er noch da.«
»Meinst du? Sechs Monate sind eine lange Zeit. Die meisten Reinigungen werfen alles weg, was nach drei Monaten noch nicht abgeholt worden ist. Das dürfen sie, es ist gesetzlich so geregelt. Wie kommst du darauf, daß er noch da sein könnte?«
»Malta Kano hat gesagt, daß ich ihn wiederfinden würde. Irgendwo außerhalb des Hauses.«
Ich konnte spüren, daß sie mich im Dunkeln ansah. »Willst du damit sagen, du glaubst, was sie sagt?«
»Ich fange gerade damit an.«
»Es dauert nicht mehr lange, und du und mein Bruder könnt euch die Hand reichen«, sagte sie mit einem Anflug von Vergnügen. »Könnt schon sein«, sagte ich.
Nachdem Kumiko eingeschlafen war, kehrte ich in Gedanken zum Schlachtfeld von Nomonhan zurück. Die Soldaten schliefen jetzt alle. Der Himmel über uns war voller Sterne, und Millionen von Grillen zirpten. Ich konnte den Fluß hören. Ich lauschte seinem Rauschen, bis ich einschlief.
5
S ÜCHTIG NACH ZITRONENBONBONS
VOGEL, DER NICHT FLIEGT,
UND BRUNNEN OHNE WASSER
Nachdem ich das Frühstücksgeschirr gespült hatte, nahm ich mein Rad und fuhr zur Reinigung am Bahnhof. Der Besitzer - ein dünner Mann von Ende Vierzig mit tiefen Runzeln auf der Stirn - hörte sich gerade eine Kassette des Percy-Faith-Orchesters an. Der Radiorecorder, ein großer JVC, an den irgendwelche zusätzlichen Baßlautsprecher angeschlossen waren, stand auf einem Regal, und neben ihm lag ein Stapel Kassetten. Das Orchester spielte das »Tara-Motiv« und holte aus den schwellenden Streichern das letzte heraus. Der Besitzer war im hinteren Teil des Ladens und pfiff zur Musik, während
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