Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
Überzeugung. Was du mir jetzt auch sagen magst - ich muß an die Kumiko glauben, die meine Hilfe will und versucht, zu mir zu gelangen. Was du mir auch sagst, wie legitim deine Gründe auch sein mögen, ich kann dich niemals einfach so vergessen, ich kann all die Jahre, die wir miteinander verbracht haben, niemals aus meinem Gedächtnis streichen. Ich kann’s nicht, weil sie wirklich passiert sind: Sie sind ein Teil meines Lebens, und ich kann sie unmöglich einfach so auslöschen. Das wäre dasselbe, als wollte ich mich auslöschen. Ich muß wissen, was für einen Grund - was für einen nachvollziehbaren Grund es geben könnte, so etwas zu tun.‹
    Es verstreicht eine weitere leere Periode. Ich spüre ihr Schweigen durch den Monitor. Wie schwerer Rauch kriecht es durch eine Ecke des Bildschirms herein und wabert über den Fußboden. Ich kenne Kumikos Schweigen. Ich habe es im Laufe unseres gemeinsamen Lebens unzählige Male beobachtet, unzählige Male erlebt. Sie sitzt mit angehaltenem Atem vor dem Bildschirm und runzelt in äußerster Konzentration die Brauen. Ich nehme meine Tasse und trinke einen Schluck kalten Kaffee. Dann halte ich, die leere Tasse in den Händen, gleichfalls den Atem an und starre auf den Bildschirm, wie Kumiko es gerade tut. Wir beide hängen durch die schweren Bande des Schweigens, die durch die Trennwand zwischen unseren zwei Welten verlaufen, unauflöslich miteinander zusammen. Wir brauchen einander mehr als sonst etwas auf der Welt: ich spüre es mit absoluter Gewißheit.
    ›Ich weiß nicht.‹
    ›Also, ICH weiß es.‹
    Ich stelle meine Kaffeetasse ab und tippe so schnell, wie ich kann, als wollte ich die flüchtige Zeit beim Schwanz erhaschen.
    ›Folgendes weiß ich: Ich weiß, daß ich einen Weg dorthin finden will, wo du bist - du, die Kumiko, die von mir gerettet werden will. Was ich leider noch NICHT weiß, ist, wie ich dorthin gelangen kann und was mich da erwartet. Seitdem du mich verlassen hast, ist mein Leben eine einzige Nacht, als habe man mich in völlige Dunkelheit gestürzt. Langsam, aber sicher nähere ich mich allerdings dem Kern, dem Ort, wo sich der Kern der Dinge befindet. Ich wollte, daß du das weißt. Ich nähere mich allmählich dem Ort, wo du bist, und ich habe vor, noch näher heranzukommen.‹
    Die Hände auf der Tastatur, warte ich auf ihre Antwort.
    ›Ich verstehe kein Wort.‹
    Kumiko tippt diese Worte und beendet dann unser Gespräch:
    ›Leb wohl.‹
     
    Auf dem Bildschirm erscheint die Meldung, daß der andere Teilnehmer aus der Leitung gegangen ist. Unser Gespräch ist beendet. Trotzdem starre ich weiter auf den Monitor, warte darauf, daß irgend etwas passiert. Vielleicht überlegt es sich Kumiko noch einmal und geht wieder online. Vielleicht fällt ihr noch etwas ein, was sie zu sagen vergessen hat. Aber sie kommt nicht wieder. Nach zwanzig Minuten gebe ich es auf. Ich speichere die Datei und gehe dann in die Küche, um ein Glas kaltes Wasser zu trinken. Ich leere für eine Weile mein Bewußtsein, stehe vor dem Kühlschrank und atme gleichmäßig ein und aus. Eine schreckliche Stille scheint sich auf alles gesenkt zu haben. Es kommt mir so vor, als warte die Welt gespannt auf meinem nächsten Gedanken. Aber ich kann nichts denken. Tut mir leid, aber ich kann einfach nichts denken.
    Ich setze mich wieder an den Computer und lese unsere ganze Unterhaltung noch einmal aufmerksam von Anfang bis Ende durch: was ich gesagt habe, was sie gesagt hat, was ich dazu gesagt habe, was sie wieder dazu gesagt hat. Es steht noch alles da auf der leuchtenden Mattscheibe, eindringlich, schwarz auf weiß sozusagen. Während meine Augen den Reihen von Zeichen folgen, die sie geschrieben hat, kann ich ihre Stimme hören. Ich erkenne das Steigen und Fallen ihrer Stimme, die feinen Tonunterschiede und Pausen. Der Cursor blinkt am Ende der letzten Zeile mit der Regelmäßigkeit eines Herzschlags, wartet mit angehaltenem Atem darauf, daß das nächste Wort abgeschickt wird. Aber es gibt kein nächstes Wort.
    Nachdem ich mir die ganze Unterhaltung unauslöschlich ins Gedächtnis eingeprägt habe (da ich zu dem Schluß gekommen bin, daß ich sie besser nicht ausdrucken sollte), klicke ich auf das Kästchen »Kommunikationsmodus beenden«. Ich beantworte die Frage, ob das Protokoll der Sitzung im Cache-Ordner gespeichert werden soll, mit »nein«, und nachdem ich mich vergewissert habe, daß es tatsächlich nicht geschehen ist, drücke ich auf den Netzschalter. Der Computer

Weitere Kostenlose Bücher