Mister Aufziehvogel
piept, und der Monitor verlischt. Das monotone mechanische Hintergrundsummen versinkt in der Stille des Zimmers wie ein lebendiger Traum, den die Hand des Nichts hinweggerissen hat.
Ich weiß nicht, wieviel Zeit seitdem vergangen ist. Aber als mir wieder bewußt wird, wo ich bin, merke ich, daß ich auf meine Hände starre, die vor mir auf dem Tisch liegen. Sie tragen die Spuren langen, unverwandten Angestarrtwordenseins.
»Schlecht werden« ist ein Prozeß, der sich über eine längere Zeitspanne hinzieht.
Wie lang ist eine solche Zeitspanne?
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S CHAFE ZÄHLEN
WAS IM MITTELPUNKT DES KREISES IST
Ein paar Tage nach Ushikawas erstem Besuch hatte ich Zimt gebeten, mir jedesmal, wenn er in die Zentrale käme, eine Zeitung mitzubringen. Es war an der Zeit, daß ich die Verbindung zur äußeren Wirklichkeit herstellte. Man mag sich noch so sehr dagegen sträuben und wehren - wenn es an der Zeit ist, schnappt die Welt zu.
Zimt hatte genickt, und von da an kam er jeden Tag mit drei Zeitungen an. Ich sah sie jeden Morgen nach dem Frühstück durch. Ich hatte schon so lange keine Zeitung mehr in der Hand gehabt, daß sie mir jetzt ganz fremd erschienen - kalt und leer. Vom anregenden Geruch der Druckerschwärze bekam ich Kopfweh, und die tiefschwarzen kleinen Horden von Schriftzeichen schienen mir in die Augen zu stechen. Alles, das Layout und die Schriftart der Schlagzeilen und der Ton der Texte, kam mir unnatürlich und falsch vor. Immer wieder mußte ich die Zeitung aus der Hand legen, die Augen schließen und einen Seufzer ausstoßen. Früher konnte das unmöglich so gewesen sein. Zeitunglesen mußte ein weit alltäglicheres Erlebnis für mich gewesen sein, als es das jetzt war. Was hatte sich an den Zeitungen so sehr geändert? Oder vielmehr: Was hatte sich an mir so sehr geändert?
Nachdem ich die Zeitungen eine Zeitlang regelmäßig gelesen hatte, wurde mir in Hinblick auf Noboru Wataya eines klar: daß er dabei war, sich eine noch sicherere gesellschaftliche Position aufzubauen. Während er einerseits als aufstrebendes neues Mitglied des Repräsentantenhauses ein ehrgeiziges politisches Programm verfolgte, gab er zugleich als Zeitschriftenkolumnist und regelmäßiger TV-Kommentator unentwegt öffentliche Stellungnahmen ab. Überall stieß ich auf seinen Namen. Aus einem mir völlig unerfindlichen Grund hörten sich die Leute tatsächlich an, was er von sich gab - und zwar mit zunehmender Begeisterung. Obwohl auf der politischen Bühne noch ein unbeschriebenes Blatt, wurde er bereits als einer der jungen Politiker gehandelt, von denen man Großes erwarten durfte. Bei einer Umfrage, die eine Frauenzeitschrift durchgeführt hatte, war er zum populärsten Politiker des Landes gewählt worden. Er wurde als »intellektueller Aktivist« gefeiert: ein neuer, noch nie gesichteter Typus von intelligentem Politiker. Immer wenn ich kein Wort mehr über aktuelle Ereignisse und Noboru Watayas prominente Rolle in denselben verkraften konnte, wandte ich mich meiner wachsenden Sammlung von Büchern über Mandschukuo zu. Zimt brachte mir seit einiger Zeit alles mit, was er zum Thema finden konnte. Doch selbst da konnte ich Noboru Watayas Schatten nicht entrinnen. An diesem Tag kroch er aus den Seiten eines Buches über logistische Probleme hervor. Mein Bibliotheksexemplar war nur ein einzigesmal, kurz nach Erscheinen des Buches im Jahre 1978, ausgeliehen und umgehend wieder zurückgegeben worden. Vielleicht interessierten sich für logistische Probleme in Mandschukuo nur Bekannte von Leutnant Mamiya.
Laut dem Verfasser hatte sich die Kaiserliche Armee Japans bereits 1920 theoretisch mit der Möglichkeit befaßt, als Vorbereitung auf einen Krieg gegen die Sowjets einen riesigen Vorrat an Winterausrüstung anzulegen. Da die Armee noch nie in so extremer Kälte wie während eines sibirischen Winters gekämpft hatte, wurde ihre angemessene Ausstattung als vordringlich eingestuft. Sollten Grenzstreitigkeiten plötzlich zur Kriegserklärung gegen die Sowjetunion führen (was damals keineswegs ausgeschlossen war), wäre die Armee nicht in der Lage gewesen, einen Winterfeldzug durchzustehen. Aus diesem Grund wurde eine Gruppe von Generalstabsoffizieren mit der Aufgabe betraut, Pläne für einen hypothetischen Krieg gegen die Sowjetunion auszuarbeiten, während die Logistikabteilung die vorhandenen Möglichkeiten untersuchen sollte, Winterkleidung für die kämpfende Truppe zu beschaffen. Um einen realistischen Eindruck von
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