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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Tag die Elefanten verschont und die Tiger, Leoparden, Wölfe und Bären unter die Erde gebracht. Was würde es jetzt begraben, was verschonen? Das waren Fragen, die niemand beantworten konnte.
    Der Arzt verließ seine Dienstwohnung, um die Vormittagsfütterung vorzubereiten. Er war davon ausgegangen, daß niemand mehr zur Arbeit erscheinen würde, aber in seinem Büro erwarteten ihn zwei chinesische Jungen. Er kannte sie nicht. Es waren dunkelhäutige, magere Dreizehn- bis Vierzehnjährige mit den lauernden Augen wilder Tiere. »Die haben uns gesagt, wir sollen Ihnen helfen«, sagte der eine Junge. Der Arzt nickte. Er fragte, wie sie hießen, aber sie gaben keine Antwort. Ihre Gesichter blieben ausdruckslos, als hätten sie die Frage nicht gehört. Diese Jungen waren offensichtlich von den Chinesen geschickt worden, die bis zum Tag zuvor im Zoo gearbeitet hatten. Wahrscheinlich hatten diese Leute inzwischen in Voraussicht der kommenden Ereignisse jeglichen Kontakt zu den Japanern abgebrochen, nahmen aber an, daß man Kinder nicht zur Rechenschaft ziehen würde. Die Jungen hatten sie als ein Zeichen guten Willens geschickt. Die Arbeiter wußten, daß er die Tiere unmöglich allein versorgen konnte.
    Der Tierarzt gab jedem Jungen zwei Plätzchen und trug ihnen dann auf, ihm bei der Fütterung der Tiere zu helfen. Sie zogen mit einem maultierbespannten Karren von Käfig zu Käfig, schütteten jedem Tier sein spezielles Futter vor und wechselten sein Trinkwasser. Die Käfige zu reinigen kam nicht in Frage. Mehr als sie kurz mit dem Schlauch abzuspritzen, um den Kot fortzuschwemmen, konnten sie nicht tun. Schließlich war der Zoo geschlossen: Kein Mensch würde sich beschweren, wenn es ein bißchen stank.
    Wie sich herausstellte, wurde die Arbeit durch das Fehlen der Tiger, Leoparden, Bären und Wölfe beträchtlich erleichtert. Die Versorgung von großen Raubtieren war schon eine umständliche Angelegenheit - und nicht ungefährlich. So bedrückt sich der Arzt auch fühlte, als sie an den leeren Käfigen vorbeikamen, er konnte sich doch einer gewissen Erleichterung nicht erwehren. Diese Arbeit blieb ihm erspart.
    Sie begannen um acht und waren nach zehn fertig. Dann verschwanden die Jungen ohne ein Wort. Die harte körperliche Arbeit hatte den Tierarzt erschöpft. Er ging in das Verwaltungsgebäude zurück und meldete dem Zoodirektor, daß die Tiere gefüttert worden waren.
     
    Kurz vor zwölf kam der junge Leutnant, an der Spitze derselben acht Soldaten, die er am Vortag dabeigehabt hatte, zum Zoo zurück. Wieder vollbewaffnet, erzeugten sie beim Marschieren ein metallisches Klirren, das sie schon von weitem ankündigte. Wieder waren ihre Hemden schwarz von Schweiß, und wieder sägten die Zikaden in den Bäumen. Heute aber kamen die Soldaten nicht, um Tiere zu töten. Der Leutnant salutierte vor dem Direktor und sagte: »Wir müssen wissen, über wie viele einsatzbereite Wagen und Zugtiere der Zoo verfügt.« Der Direktor teilte ihm mit, daß sie genau ein Maultier und einen Karren hatten. »Vor zwei Wochen haben wir unseren einzigen Lastwagen und zwei Pferde abgeliefert«, setzte er hinzu. Der Leutnant nickte und kündigte an, daß er gemäß Befehl des Hauptquartiers der Kwantung-Armee das Maultier und den Karren requirieren werde.
    »Einen Moment«, warf der Tierarzt ein. »Wir brauchen beides, um die Tiere zweimal am Tag füttern zu können. Unsere einheimischen Arbeiter sind alle verschwunden. Ohne Maultier und Wagen werden uns die Tiere verhungern. Selbst mit kommen wir mit der Arbeit kaum zu Rande.«
    »Wir kommen alle kaum zu Rande«, sagte der Leutnant. Seine Augen waren blutunterlaufen, und sein Gesicht war mit Bartstoppeln bedeckt. »Unsere vordringlichste Aufgabe ist, die Stadt zu verteidigen. Sie können die Tiere notfalls immer noch freilassen. Um die gefährlichen Fleischfresser haben wir uns ja schon gekümmert. Die übrigen stellen kein Sicherheitsrisiko dar. Tut mir leid, aber das sind militärische Befehle. Sie werden sich irgendwie behelfen müssen.« Der Leutnant machte der Diskussion ein Ende, indem er seinen Männern befahl, Maultier und Karren zu holen. Als sie gegangen waren, sahen der Tierarzt und der Zoodirektor einander an. Der Direktor nahm einen Schluck Tee, schüttelte den Kopf und sagte nichts.
    Vier Stunden später kehrten die Soldaten mit dem Maultier und dem Wagen zurück. Eine schmutzige Leinwandplane bedeckte die aufgehäufte Ladung des Wagens. Das Maultier ächzte, am ganzen

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