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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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meiner täglichen Routine geworden, und außerdem würde es Kumiko vielleicht ein bißchen freuen, zu erfahren, daß ich es wenigstens versucht hatte. Ich zog meinen leichten Regenmantel an. Ich beschloß, keinen Schirm mitzunehmen. Ich zog meine Tennisschuhe an und verließ das Haus mit dem Schlüssel und ein paar Zitronenbonbons in der Manteltasche. Ich ging zum hinteren Ende des Gartens, aber gerade als ich eine Hand auf die Hohlblockmauer gelegt hatte, klingelte ein Telefon. Ich blieb reglos stehen und spitzte die Ohren, aber ich konnte nicht erkennen, ob es unser Telefon war oder das irgendeines Nachbarn. Sobald man aus dem Haus ist, klingen alle Telefone gleich. Ich gab es auf und kletterte über die Mauer.
    Durch die dünnen Sohlen meiner Tennisschuhe spürte ich das weiche Gras. In der Gasse war es stiller als gewöhnlich. Ich blieb eine Weile reglos stehen und lauschte mit angehaltenem Atem, aber ich hörte nichts. Das Telefon hatte aufgehört zu klingeln. Ich hörte weder Vogelstimmen noch irgendwelche Verkehrsgeräusche. Der Himmel war mit einem vollkommen gleichförmigen Grau überstrichen. An solchen Tagen sogen die Wolken wahrscheinlich alle Geräusche von der Erdoberfläche auf. Und nicht nur Geräusche, alles mögliche andere auch. Wahrnehmungen, zum Beispiel.
    Die Hände in den Taschen meines Regenmantels, tauchte ich in die enge Gasse ein. Wo Wäschetrockenstangen in den Weg hineinragten, quetschte ich mich entlang der Mauern vorbei. Bei anderen Häusern ging ich direkt unter dem Dachvorsprung durch. Auf diese Weise arbeitete ich mich lautlos durch diesen Durchgang, der an einen verlassenen Kanal erinnerte. Meine Tennisschuhe machten auf dem Gras nicht das geringste Geräusch. Das einzige, was ich während meiner kurzen Wanderung wirklich hörte, war ein Radio, das in einem Haus lief. Es kam gerade eine Ratgebersendung mit Höreranrufen. Ein Mann mittleren Alters beklagte sich beim Moderator soeben über seine Schwiegermutter. Nach den Satzfetzen, die ich mitbekam, war die Frau achtundsechzig und absolut verrückt nach Pferderennen. Als ich das Haus hinter mir gelassen hatte, wurde das Geräusch des Radios immer leiser und leiser, bis nichts mehr übrig war, als wäre dasjenige, was sich da allmählich in nichts aufgelöst hatte, nicht lediglich das Geräusch des Radios gewesen, sondern auch der Mann mittleren Alters und seine pferdebesessene Schwiegermutter, die doch beide irgendwo auf der Welt existieren mußten. Endlich erreichte ich das verlassene Haus. Da stand es, so stumm wie immer. Vor dem Hintergrund grauer, niedriger Wolken ragte es, mit den zugenagelten Fensterläden im ersten Geschoß, wie eine düstere, verschwommene Masse auf. Es hätte ein riesiger Frachter sein können, der eines Nachts vor langer Zeit auf ein Riff gelaufen und dort endgültig aufgegeben worden war. Wäre das Gras nicht seit meinem letzten Besuch deutlich höher gewesen, hätte ich glauben können, an diesem einen Ort sei die Zeit stehengeblieben. Dank der langen Regentage leuchteten die Grashalme in einem satten Dunkelgrün, und sie verströmten diesen Geruch von Wildheit, den nur Wesen haben, die Wurzeln in die Erde versenken. Exakt im Mittelpunkt dieses Grasmeeres stand die Vogelplastik in derselben Haltung, in der ich sie zuvor gesehen hatte: die Schwingen ausgebreitet, zum Abflug bereit. Dieser Vogel würde natürlich niemals auffliegen können. Ich wußte das, und der Vogel wußte das auch. Er würde da bleiben, wo man ihn hingestellt hatte, bis man ihn eines Tages wegkarren oder in Stücke schlagen würde. Eine andere Möglichkeit, diesen Garten zu verlassen, gab es für ihn nicht. Das einzige, was sich dort drinnen bewegte, war ein kleiner weißer Schmetterling, der, ein paar Wochen über seine Zeit hinaus, über das Gras dahinflatterte. Er kam nur zögernd voran, wie ein Suchender, der vergessen hat, wonach er sucht. Nach fünf Minuten dieser ergebnislosen Jagd verschwand der Schmetterling irgendwohin. Ein Zitronenbonbon lutschend, lehnte ich mich gegen den Maschendrahtzaun und blickte in den Garten. Vom Kater war keine Spur zu sehen. Von nichts war eine Spur zu sehen. Der Ort wirkte wie ein stilles, stehendes Gewässer, in dem eine gewaltige Kraft den natürlichen Fluß unterbunden hatte. Ich spürte, daß jemand hinter mir stand und fuhr herum. Aber da war niemand: nur der Zaun auf der anderen Seite der Gasse und das Törchen im Zaun, das Tor, an dem das Mädchen gestanden hatte. Aber jetzt war es zu und

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