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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Zwischenzeit irgend etwas Bestimmtem näher gekommen zu sein. Die Zahlen an den Türen hatten keinerlei erkennbare Ordnung und nahmen kein Ende, so daß sie mir überhaupt nicht weiterhalfen. Sie rieselten mir aus dem Gedächtnis, fast noch ehe ich sie bewußt wahrgenommen hatte. Ab und an kam es mir so vor, als sei ich an der einen oder anderen Tür schon vorbeigekommen. Ich blieb mitten auf dem Korridor stehen und hielt den Atem an. Bewegte ich mich vielleicht im Kreis, wie jemand, der sich im Wald verlaufen hat?
     
    Wie ich da stand und mich fragte, was ich tun sollte, hörte ich in der Ferne ein vertrautes Geräusch. Es war der pfeifende Kellner. Er traf die Töne mit vollendeter Präzision. Das machte ihm keiner nach. Wie beim vorigen Mal war es die Ouvertüre zu Rossinis Die diebische Elster - was als Stück nicht gerade einfach zu pfeifen ist, aber er schien keine Schwierigkeiten damit zu haben. Ich folgte dem Korridor in Richtung des Pfeifens, das immer lauter und deutlicher wurde. Er schien mir entgegenzukommen. Ich fand einen stämmigen Pfeiler und versteckte mich dahinter.
    Der Kellner trug wieder ein silbernes Tablett mit der gewohnten Flasche Cutty Sark, dem Eiskübel und den zwei Gläsern. Die Augen starr geradeaus, eilte er mit einer Miene an mir vorbei, als sei er völlig im Bann seines eigenen Pfeifens. Er sah nicht in meine Richtung; er hatte es so eilig, daß er keinen einzigen Augenblick für eine überflüssige Bewegung erübrigen konnte. Alles ist genau so wie beim ersten Mal, dachte ich. Ich hatte den Eindruck, mein Fleisch würde in die Vergangenheit zurückversetzt.
    Sobald der Kellner an mir vorübergegangen war, heftete ich mich an seine Fersen. Sein Silbertablett wippte anmutig im Takt der Melodie, die er pfiff, und fing von Zeit zu Zeit den grellen Schein einer Deckenlampe auf. Er wiederholte die Melodie der Diebischen Elster immer wieder von vorn, wie einen Zauberspruch. Was ist das eigentlich für eine Oper, Die diebische Elster? fragte ich mich. Alles, was ich von ihr wußte, war die monotone Melodie ihrer Ouvertüre und ihr rätselhafter Titel. Als ich ein Junge war, hatten wir die Ouvertüre auf Schallplatte gehabt. Der Dirigent war Arturo Toscanini gewesen. Verglichen mit Claudio Abbados jugendlicher, flüssiger, zeitgemäßer Einspielung besaß Toscaninis Interpretation eine aufwühlende Intensität, wie die langsame Erdrosselung eines starken Feindes, der nach einem erbitterten Zweikampf zu Boden gerungen worden ist. Aber war Die diebische Elster wirklich die Geschichte einer Elster, die dem Diebstahl frönte? Wenn sich die Dinge je wieder normalisierten, würde ich in die Bücherei gehen und mir eine Enzyklopädie der Musik ausleihen müssen. Ich würde mir vielleicht sogar eine vollständige Aufnahme der Oper besorgen, wenn es sie zu kaufen gab. Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht würden mir die Antworten auf diese Fragen bis dahin gleichgültig geworden sein.
    Der pfeifende Kellner ging, mit der ganzen mechanischen Gleichmäßigkeit eines Roboters, immer weiter geradeaus, und ich folgte ihm in gleichbleibendem Abstand. Ich wußte, wohin er ging, ohne auch einen Augenblick nachdenken zu müssen. Er brachte die unangebrochene Flasche Cutty Sark und das Eis und die Gläser in Zimmer 208. Und tatsächlich blieb er zuletzt vor Zimmer 208 stehen. Er wechselte das Tablett in die linke Hand, überprüfte die Zimmernummer, straffte sich und klopfte leicht an die Tür. Drei Schläge, dann wieder drei. Ich konnte nicht feststellen, ob von innen irgendeine Antwort kam. Ich stand hinter der Vase versteckt und beobachtete den Kellner. Die Zeit verging, aber der Kellner verharrte in seiner strammen Haltung, als sei er entschlossen, den Rekord in Ausdauer zu brechen. Er klopfte nicht noch einmal, sondern wartete geduldig darauf, daß die Tür aufging. Und schließlich, wie in Erhörung eines Gebets, begann die Tür, sich einwärts zu öffnen.

32
    W IE MAN ANDERE DAZU BRINGT,
    IHRE PHANTASIE ZU GEBRAUCHEN
    (DIE FORTSETZUNG DER GESCHICHTE
    BORIS’ DES MENSCHENSCHINDERS)
     
    Boris hielt sein Versprechen. Den japanischen Kriegsgefangenen wurde die Teilautonomie gewährt, und wir durften ein Komitee von Vertretern wählen. Der Oberst war der Vorsitzende des Komitees. Von da an war es den russischen Wachen, Zivilisten wie Armeeangehörigen, verboten, uns zu mißhandeln, und die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Ordnung im Lager ging auf das Komitee über. Solange wir keinen Ärger

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