Mister Aufziehvogel
schwachem, opakem Licht durchsetzt. Und ein vertrauter scharfer Geruch nach Pollen drang mir in die Nase. Ich war in diesem seltsamen Hotelzimmer.
Ich hob das Gesicht, prüfte meine Umgebung, hielt den Atem an. Ich war durch die Wand gelangt.
Ich saß auf einem teppichbedeckten Fußboden, den Rücken an eine stoffbespannte Wand gelehnt. Meine Hände lagen noch immer gefaltet auf meinen Knien. So beängstigend tief mein Schlaf noch vor einem Augenblick gewesen war, so vollkommen wach und klar war ich jetzt. Der Kontrast war so extrem, daß es einen Moment dauerte, bis mir mein Wachsein so recht bewußt wurde. Die raschen Kontraktionen meines Herzens waren deutlich zu hören. Es bestand kein Zweifel. Ich war hier. Ich hatte es endlich geschafft, in das Zimmer zu gelangen.
In der feinkörnigen, vielschichtigen Dunkelheit sah das Zimmer genau so aus, wie ich es in Erinnerung hatte. Als meine Augen sich jedoch nach und nach an die Dunkelheit gewöhnten, begann ich geringfügige Veränderungen zu bemerken. Zunächst einmal stand das Telefon an einem anderen Platz. Statt auf dem Nachttisch befand es sich jetzt auf einem Kissen, fast völlig darin eingesunken. Dann sah ich, daß der Whisky in der Flasche erheblich abgenommen hatte. Jetzt war nur noch ein kleiner Rest übrig. Das Eis war völlig geschmolzen, und der Kübel enthielt jetzt nur mehr abgestandenes, trübes Wasser. Das Glas war innen trocken, und als ich es berührte, stellte ich fest, daß es von weißem Staub bedeckt war. Ich ging ans Bett, hob das Telefon auf und hielt mir den Hörer ans Ohr. Die Leitung war tot. Das Zimmer sah so aus, als sei es seit langer Zeit verlassen und vergessen. Nichts deutete auf die Anwesenheit von Menschen hin. Nur die Schnittblumen bewahrten ihre seltsame, lebendige Leuchtkraft.
Man sah, daß jemand im Bett gelegen hatte: die Laken und Decken und Kissen waren leicht in Unordnung. Ich streifte die Decken zurück und fühlte die Laken ab, aber sie waren kalt. Es war auch kein Geruch nach Parfüm zurückgeblieben. Anscheinend war viel Zeit vergangen, seit die betreffende Person das Bett verlassen hatte. Ich setzte mich auf die Bettkante, musterte noch einmal den Raum und horchte. Aber ich hörte nichts. Der Raum wirkte wie eine alte Gruft, nachdem Grabräuber die Leiche hinausgeschafft hatten.
Ganz unvermittelt begann das Telefon zu klingeln. Mein Herz erstarrte wie eine erschrockene Katze. Die harten Schwingungen der Luft weckten die schwebenden Pollenkörnchen, und die Blütenblätter hoben im Dunkeln ihre Gesichter. Wie konnte das Telefon nur klingeln? Noch vor wenigen Augenblicken war es so tot gewesen wie ein Stein in der Erde. Ich zügelte meine Atmung, beruhigte meinen Herzschlag und vergewisserte mich, daß ich noch immer da war, im Zimmer. Ich streckte die Hand aus, legte meine Finger an den Hörer und zögerte einen Moment, bevor ich ihn von der Gabel hob. Inzwischen hatte das Telefon drei- oder auch viermal geklingelt.
»Hallo.« Sobald ich den Hörer abnahm, war das Telefon wieder tot. Die unwiderrufliche Schwere des Todes lastete wie ein Sandsack in meiner Hand. »Hallo«, sagte ich noch einmal, aber meine trockene Stimme schallte unverändert zurück, als prallte sie von einer dicken Wand ab. Ich legte den Hörer auf, nahm ihn dann wieder ab und lauschte. Es war nichts zu hören. Ich blieb auf der Bettkante sitzen und versuchte, meine Atmung zu regulieren, während ich darauf wartete, daß das Telefon noch einmal klingelte. Es klingelte nicht. Ich sah zu, wie die schwebenden Körnchen erneut das Bewußtsein verloren und in der Dunkelheit versanken. Ich spielte mir das Geräusch des Telefons noch einmal im Geist vor. Ich war nicht mehr völlig sicher, daß es wirklich geklingelt hatte. Aber wenn ich zuließ, daß sich derlei Zweifel einschlichen, dann würde es mit ihnen kein Ende mehr nehmen. Irgendwo mußte ich eine Grenze ziehen, sonst würde selbst fraglich werden, ob ich mich überhaupt hier befand. Das Telefon hatte geklingelt; ich konnte mich nicht irren. Und im nächsten Moment war die Leitung wieder tot gewesen. Ich räusperte mich, aber auch dieses Geräusch erstarb augenblicklich in der Luft. Ich stand auf und machte einen Rundgang durch das Zimmer. Ich musterte den Fußboden, starrte an die Decke empor, setzte mich auf den Tisch, lehnte mich an die Wand, drehte einmal kurz am Türknauf, schaltete die Stehlampe ein und aus. Der Türknauf rührte sich natürlich nicht, und die Lampe hatte keinen Strom.
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