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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Das Fenster war von außen blockiert. Ich horchte nach irgendwelchen Geräuschen, aber die Stille war wie eine glatte hohe Wand. Dennoch spürte ich die Anwesenheit von etwas, das mich zu täuschen versuchte - so als ob die anderen den Atem anhielten, sich platt gegen die Wand drückten, die Farbe ihrer Haut auslöschten, damit ich nicht merkte, daß sie da waren. Also tat ich so, als merkte ich nichts. Wir waren beide Meister darin, uns gegenseitig etwas vorzumachen. Ich räusperte mich wieder und führte die Finger an meine Lippen.
    Ich beschloß, das Zimmer einer erneuten Inspektion zu unterziehen. Ich probierte es noch einmal mit der Stehlampe, aber sie gab kein Licht. Ich schraubte die Whiskyflasche auf und schnüffelte an der Öffnung. Der Geruch war unverändert. Cutty Sark. Ich verschloß die Flasche wieder und stellte sie auf den Tisch zurück. Ich führte den Telefonhörer ein weiteres Mal an mein Ohr, aber die Leitung hätte nicht toter sein können. Ich machte ein paar langsame Schritte, um ein Gefühl vom Teppich unter meinen Sohlen zu bekommen. Ich preßte das Ohr an die Wand und konzentrierte meine ganze Aufmerksamkeit auf etwaige Geräusche, die durch sie dringen mochten, aber natürlich war nichts zu hören. Ich ging an die Tür und drehte, obwohl ich wußte, daß es sinnlos war, an dem Knauf. Er ließ sich mühelos nach rechts drehen. Einen Augenblick lang war ich außerstande, diese Tatsache als Tatsache zu registrieren. Vorher hatte der Türknauf so wenig nachgegeben, als sei er einbetoniert gewesen. Also das Ganze noch einmal von vorn: Ich nahm die Hand weg, streckte sie wieder nach dem Knauf aus und drehte ihn hin und her. Er ließ sich widerstandslos drehen. Es verursachte mir ein äußerst merkwürdiges Gefühl, als ob meine Zunge sich aufblähte und mir die Mundhöhle ausfüllte.
    Die Tür war offen.
    Ich zog am Knauf, bis die Tür sich gerade so weit einwärts öffnete, daß ein blendender Lichtstrahl in das Zimmer drang. Der Schläger. Wenn ich jetzt nur den Schläger gehabt hätte, dann wäre mir viel wohler gewesen. Ach, vergiß den Schläger! Ich zog die Tür sperrangelweit auf. Nachdem ich mich mit einem Blick nach links, dann nach rechts vergewissert hatte, daß niemand da war, trat ich hinaus auf den Gang. Es war ein langer, teppichbelegter Korridor. Ein Stückchen weiter konnte ich eine große Vase mit Blumen sehen. Es war die Vase, hinter der ich mich versteckt hatte, während der pfeifende Zimmerkellner an diese Tür geklopft hatte. Nach meiner Erinnerung war der Korridor lang gewesen, mit vielen Kurven und Knicken und Verzweigungen. Hierher hatte ich es nur geschafft, weil ich unterwegs auf den pfeifenden Kellner gestoßen und ihm gefolgt war. Das Schildchen an der Tür hatte dieses Zimmer als Nr. 208 ausgewiesen. Mit vorsichtigen Schritten ging ich auf die Vase zu. Ich hoffte, ich würde mich zum Foyer durchfinden, wo Noboru Wataya im Fernsehen gesprochen hatte. Im Foyer waren viele Menschen gewesen, ein dauerndes Kommen und Gehen. Möglicherweise würde ich dort irgendeinen Hinweis finden. Aber durch das Hotel zu wandern war so, als wagte man sich ohne einen Kompaß in eine endlose Wüste. Wenn ich das Foyer nicht fand und es dann nicht schaffte, zu Zimmer 208 zurückzufinden, konnte ich für immer an diesem labyrinthischen Ort eingesperrt bleiben, außerstande, in die wirkliche Welt zurückzukehren. Aber jetzt war keine Zeit zu zaudern. Das war wahrscheinlich meine letzte Chance. Ich hatte sechs Monate lang tagein, tagaus auf dem Grund des Brunnens gewartet, und jetzt endlich hatte sich die Tür vor mir aufgetan. Außerdem würde mir der Brunnen bald nicht mehr gehören. Wenn ich jetzt versagte, wären all die Zeit und all die Mühe umsonst gewesen.
    Ich bog um mehrere Ecken. Meine schmutzigen Tennisschuhe erzeugten auf dem Teppichboden keinerlei Geräusch. Ich konnte nicht das geringste hören - keine Stimmen, keine Musik, keinen Fernseher, nicht einmal einen Entlüftungsventilator oder einen Aufzug. Das Hotel war so stumm wie eine Ruine, die die Zeit vergessen hatte. Ich bog um mehrere Ecken und kam an vielen Türen vorbei. Der Korridor gabelte sich wieder und wieder, und ich hatte mich immer rechts gehalten, weil ich dachte, wenn ich irgendwann beschließen sollte, wieder zum Zimmer zurückzukehren, würde ich nur bei jeder Verzweigung nach links abzubiegen brauchen. Mittlerweile hatte ich allerdings jede Orientierung verloren. Ich hatte nicht das Gefühl, in der

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