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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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sagte er mit einem Lächeln und breitete die Arme aus. » Wir haben beide bekommen, was wir wollten. Die Kohlenförderung ist gestiegen, und Moskau ist glücklich. Wer könnte da mehr verlangen? Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, daß Sie als mein Mittelsmann aufgetreten sind, und ich möchte als Gegenleistung jetzt etwas für Sie tun. « Das sei nicht nötig, erwiderte ich.
    » Ebensowenig ist diese vornehme Kühle vonnöten, Leutnant. Wir beide sind alte Bekannte « , sagte Boris lächelnd. » Ich möchte, daß Sie mit mir zusammenarbeiten. Ich will Sie zu meinem Assistenten machen. Unglücklicherweise sind Männer, die ihr Gehirn gebrauchen können, hier äußerst dünn gesät. Ihnen fehlt zwar eine Hand, aber ich kann sehen, daß Ihr scharfer Verstand diese Behinderung mehr als wettmacht. Wenn Sie sich bereit erklärten, als mein Sekretär zu arbeiten, wäre ich Ihnen sehr dankbar und würde alles in meiner Macht Stehende tun, um Ihnen das Leben im Lager so leicht wie möglich zu machen. Auf diese Weise könnten Sie fest damit rechnen, die Gefangenschaft zu überleben und früher oder später wieder in Ihre Heimat zurückzukehren. Eine enge Zusammenarbeit mit mir kann für Sie nur von Vorteil sein. «
    Unter normalen Umständen hätte ich ein solches Ansinnen ohne weiteres abgelehnt. Ich hatte nicht die Absicht, meine Kameraden zu verraten und mir ein bequemes Leben zu sichern, indem ich als Boris’ Assistent arbeitete. Und wenn eine solche Ablehnung meinen Tod bedeutet hätte, dann wäre es mir nur recht gewesen. Aber in dem Moment, in dem er mir sein Angebot unterbreitete, merkte ich, wie ein Plan in mir Gestalt anzunehmen begann. » Worin würde meine Arbeit bestehen? « fragte ich.
     
    Was Boris von mir erwartete, war keine Kleinigkeit. Die Zahl der verschiedenen Pflichten, die erledigt sein wollten, war gewaltig, wobei die für sich genommen größte Aufgabe die Verwaltung von Boris’ Privatvermögen darstellte. Boris hatte gut vierzig Prozent der Lebensmittel, Kleidungsstücke und Medikamente, die von Moskau und dem Internationalen Roten Kreuz ins Lager geschickt wurden, für sich abgezweigt, in geheimen Lagerhäusern gehortet und an verschiedene Abnehmer verkauft. Er hatte auch ganze Zugladungen Kohle durch den schwarzen Markt geschleust. Überall herrschte chronischer Brennstoffmangel, und die Nachfrage war dementsprechend groß. Er bestach Stationsvorsteher und Bahnarbeiter und konnte die Züge praktisch fahren lassen, wie und wohin er wollte. Lebensmittel und Geld brachten die für die Sicherung des Zugverkehrs verantwortlichen Soldaten dazu, beide Augen zuzudrücken. Dank solcher » Geschäfts « -Praktiken hatte Boris ein riesiges Vermögen angehäuft. Er erklärte mir, das Geld sei letztlich als Betriebskapital für die Geheimpolizei gedacht. » Unsere Tätigkeit « , wie er die Sache nannte, erfordere riesige Summen, die nicht offen verbucht werden dürften, und er sei jetzt eben dabei, diese Geheimfonds zu » beschaffen « . Aber das war eine Lüge. Ein Teil des Geldes mochte tatsächlich nach Moskau gelangen, aber ich war sicher, daß weit über die Hälfte der Einnahmen in Boris’ Privatschatulle flossen. Soweit ich feststellen konnte, transferierte er das Geld auf ausländische Bankkonten und kaufte Gold.
    Aus unerfindlichen Gründen schien er mir absolutes Vertrauen zu schenken. Es scheint ihm überhaupt nicht in den Sinn gekommen zu sein, daß ich seine Geheimnisse verraten könnte, und im nachhinein finde ich das äußerst merkwürdig. Seinen russischen Landsleuten und anderen Weißen begegnete er stets mit dem äußersten Argwohn, aber Mongolen oder Japanern schien er uneingeschränktes Vertrauen entgegenzubringen.
    Vielleicht glaubte er, daß ich ihm ohnehin nicht hätte schaden können, selbst wenn ich beschlossen hätte, seine Geheimnisse zu verraten. Wem denn auch? Jeder in meiner Umgebung war Boris’ Komplize oder Handlanger und war als solcher zu einem -und wenn auch winzigen - Teil an dessen ungeheuren illegalen Profiten beteiligt. Und die einzigen, die darunter zu leiden hatten, daß Boris ihre Lebensmittel, ihre Kleidung und ihre Arzneimittel verschob und sich an ihrem Tod bereicherte, waren die machtlosen L agerinsassen. Und außerdem wurde alle Post zensiert, und jeder Kontakt mit Außenstehenden war strengstens untersagt. Und so wurde ich Boris’ tatkräftiger und treuer Privatsekretär. Ich überarbeitete seine chaotische Buchführung und Lagerkartei von Grund auf, wobei

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