Mister Aufziehvogel
machten und die vorgegebenen Fördermengen erzielten, würden sie uns in Ruhe lassen. Das also war die offizielle Politik des neuen Politbüromitglieds (was heißen soll, Boris’ Politik). Diese auf den ersten Blick so demokratischen Reformen hätten uns Kriegsgefangenen mehr als willkommen sein müssen.
Aber die Dinge lagen nicht so einfach, wie es den Anschein hatte. Zu sehr damit beschäftigt, uns über die neuen Reformen zu freuen, tappten wir Dummköpfe blindlings in die hinterhältige Falle, die Boris uns gestellt hatte.
Dank der Unterstützung der Geheimpolizei befand sich Boris in einer weit mächtigeren Position als das neue Politbüromitglied, und er machte sich sofort daran, das Lager und die Siedlung nach seinen Vorstellungen umzumodeln. Intrigen und Terrormaßnahmen waren bald an der Tagesordnung. Boris wählte unter den Gefangenen und den zivilen Wachen die kräftigsten und brutalsten Männer aus (woran es nicht mangelte), bildete sie aus und machte sie zu seiner persönlichen Leibwache. Mit Pistolen, Messern und Keulen bewaffnet, nahm sich diese handverlesene Schar jeden vor, der sich Boris zu widersetzen wagte: bedrohte und mißhandelte ihn - oder prügelte ihn, auf Boris’ Befehl, sogar zu Tode. Niemand konnte gegen diese Schläger etwas ausrichten. Die von regulären Einheiten zur Bewachung des Bergwerks abgestellten Soldaten taten so, als sähen sie nicht, was direkt vor ihrer Nase geschah. Mittlerweile konnte nicht einmal mehr die Armee Boris etwas anhaben. Die Soldaten blieben im Hintergrund: Sie bewachten die Eisenbahnstation und ihre eigenen Unterkünfte und hielten sich aus allem, was im Bergwerk und im Lager vor sich ging, demonstrativ heraus.
Boris’ Favorit in seiner handverlesenen Garde war » der Tatar « : ein Gefangener, der früher angeblich mongolischer Meister im Ringen gewesen war. Der Mann folgte Boris wie ein Schatten. Er hatte auf der rechten Wange eine große Narbe von einer Verbrennung, die ihm, wie man hörte, während der Folter zugefügt worden war, Boris trug keine Sträflingskleidung mehr, und er zog in ein hübsches Häuschen um, das eine Gefangene für ihn sauberhielt.
Laut Nikolai (der sich zunehmend scheute, über irgend etwas zu reden) waren mehrere Russen, die er kannte, über Nacht einfach verschwunden. Offiziell wurden sie als vermißt oder als Opfer von Unfällen registriert, aber niemand zweifelte daran, daß Boris’ Schergen sich » um sie gekümmert « hatten. Jeder, der Boris’ Befehle nicht befolgte - oder ihm auch nur mißfiel -, schwebte jetzt in Lebensgefahr. Ein paar Männer versuchten, sich direkt beim Zentralkomitee der Partei über die Mißstände im Lager zu beschweren, aber sie verschwanden spurlos. » Ich habe gehört, daß sie sogar einen kleinen Jungen - einen Siebenjährigen - umgebracht haben, um die Eltern zum Spuren zu bringen. Haben ihn vor deren Augen zu Tode geprügelt « , flüsterte mir Nikolai leichenblaß zu.
Anfangs hütete sich Boris, in der japanischen Zone so brutal vorzugehen. Er konzentrierte vielmehr seine ganze Energie darauf, die russischen Wachen völlig unter seine Kontrolle zu bringen und seine Machtposition im Lager zu festigen. Vorläufig schien er willens zu sein, die japanischen Kriegsgefangenen tatsächlich ihre Angelegenheiten selbst regeln zu lassen. Und so war uns in den ersten paar Monaten nach den Reformen eine kurze Atempause vergönnt. Dies waren für uns ruhige Tage, eine Periode echten Friedens. Dem Komitee gelang es, gewisse - und wenn auch bescheidene - Arbeitserleichterungen zu erwirken, und wir brauchten keine Mißhandlungen von selten der Wächter mehr zu befürchten. Zum erstenmal seit unserer Ankunft im Lager vermochten wir, so etwas wie Hoffnung zu verspüren. Die Menschen glaubten, daß sich ihre Situation noch weiter verbessern würde.
Nicht, daß Boris uns während dieser kurzen Schonzeit gänzlich vergessen hätte. Er nutzte die Zeit, um seine Figuren in aller Stille zu seinem größtmöglichen strategischen Vorteil zu postieren. Er nahm sich die Mitglieder des Komitees einzeln in aller Heimlichkeit vor und schaffte es, sie durch Bestechung oder durch Einschüchterung unter seine Kontrolle zu bringen. Er vermied jede offene Anwendung von Gewalt und ging mit äußerster Umsicht vor, und so merkte niemand, was er da tat. Als wir es dann endlich merkten, war es zu spät. Durch die Scheinautonomie, die er uns gewährt hatte, lullte er uns ein, während er Stück für Stück ein noch
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