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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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ich den Geld- und Güterstrom systematisierte und übersichtlich gestaltete. Ich legte ein kategorisiertes Hauptbuch an, das auf einen Blick zeigte, wieviel sich von einer gegebenen Ware wo befand und wieviel ihr gegenwärtiger Marktwert betrug. Ich erstellte eine lange Liste von Bestechungsempfängern und errechnete die für jeden von ihnen anfallenden » notwendigen Ausgaben « . Ich arbeitete für Boris hart, von früh bis spät, mit dem Resultat, daß ich die wenigen Freunde verlor, die ich gehabt hatte. Die Leute betrachteten mich (zwangsläufig, wie ich zugeben muß) als einen verächtlichen Menschen, einen Mann, der seine Landsleute verkauft hatte und Boris’ getreuer Stiefellecker geworden war. Und das Traurigste ist, daß sie mich wahrscheinlich noch immer so betrachten. Nikolai wechselte kein Wort mehr mit mir. Die zwei oder drei anderen japanischen Kriegsgefangenen, zu denen ich eine engere Beziehung gehabt hatte, wandten sich jetzt ab, sobald sie mich kommen sahen. Umgekehrt gab es eine Reihe von Leuten, die sich, als sie merkten, daß ich ein Günstling von Boris geworden war, mit mir gut zu stellen versuchten - aber mit ihnen wollte ich nichts zu tun haben. Und so geriet ich im Lager immer mehr in Isolation. Nur Boris’ Schutz bewahrte mich davor, getötet zu werden. Niemand hätte es gewagt, einen seiner wertvollsten Sklaven zu ermorden. Jeder wußte, wie grausam Boris sein konnte; sein Ruf als der » Menschenschinder « hatte selbst dort schon legendäre Ausmaße erreicht. Je mehr ich isoliert wurde, desto vertrauenswürdiger erschien ich Boris. Er war mit meinen effizienten, systematischen Arbeitsmethoden äußerst zufrieden, und er kargte nicht mit Lob.
    » Sie sind ein sehr bemerkenswerter Mann, Leutnant Mamiya. Wenn es genügend Japaner wie Sie gibt, wird sich Japan mit Sicherheit von seinen chaotischen Nachkriegsverhältnissen erholen. Für mein Land besteht dagegen keine Hoffnung. Es ging ihm zur Zarenzeit fast besser. Zumindest brauchte sich der Zar seinen hohlen Kopf nicht mit einem Haufen Theorien zu befrachten. Lenin hat alles, was er von den Marxschen Theorien verstand, genommen und zu seinem eigenen Vorteil verwendet, und Stalin hat alles, was er von Lenins Theorien kapieren konnte (was nicht viel war), genommen und zu seinem Vorteil verwendet. Je beschränkter der geistige Horizont eines Mannes ist, desto mehr Macht kann er in diesem Land gewinnen. Glauben Sie mir, Leutnant, hier gibt es nur einen Weg zu überleben: sich nichts ausdenken. Ein Russe, der seine Phantasie gebraucht, ist erledigt. Ich selbst benutze meine nie. Mein Beruf ist, andere Leute dazu zu bringen, ihre Phantasie zu gebrauchen. Damit verdiene ich mir meine Brötchen. Prägen Sie sich das gut ein. Sollten Sie je merken, daß Sie anfangen, sich irgendwelche Sachen auszudenken, stellen Sie sich - wenigstens solange Sie hier sind - mein Gesicht vor und sagen Sie sich: › Nein, laß das sein. Phantasie kann tödlich sein. ‹ Diesen goldenen Ratschlag möchte ich Ihnen mit auf den Weg geben. Überlassen Sie es anderen, ihre Phantasie zu gebrauchen. «
     
    So verging ein halbes Jahr. Der Herbst 1947 neigte sich seinem Ende zu, und ich war Boris unentbehrlich geworden. Ich war für die geschäftliche Seite seiner Aktivitäten verantwortlich, während der Tatar für die gewalttätige Seite zuständig war. Die Geheimpolizei hatte Boris noch immer nicht nach Moskau zurückgerufen, aber andererseits schien er selbst gar nicht mehr zurückzuwollen. Er hatte das Lager und das Bergwerk in sein nahezu unantastbares Territorium verwandelt, und dort führte er ein behagliches Leben und häufte, von seiner Privatarmee beschützt, ein exorbitantes Vermögen an. Vielleicht hielt es die Moskauer Elite auch für vorteilhafter, ihn nicht wieder in die Hauptstadt zurückzuholen, sondern ihn auf diesem vorgeschobenen Posten zu lassen und dadurch ihre Macht in Sibirien zu festigen. Boris stand fortwährend in Korrespondenz mit Moskau - wobei die Briefe natürlich nicht der Post anvertraut wurden: sie kamen mit dem Zug, im Portefeuille von Geheimkurieren. Diese waren immer großgewachsene Männer mit eiskalten Augen. Wenn einer von ihnen das Zimmer betrat, schien die Temperatur schlagartig um einige Grad zu sinken.
    Derweil starben die Gefangenen, die im Bergwerk arbeiteten, weiter zu Hunderten, und wie zuvor füllten ihre Leichname nach und nach die Schächte. Boris nahm eine sorgfältige Einschätzung des Leistungspotentials jedes

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