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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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einzelnen Häftlings vor, dann trieb er die Schwachen besonders hart an und verringerte ihre Essensrationen, um sie möglichst rasch sterben zu lassen und die Zahl der zu stopfenden Mäuler zu reduzieren. Die den Schwachen vorenthaltenen Lebensmittel gingen an die Starken, um deren Produktivität noch weiter zu erhöhen. Effizienz war im Lager alles: Es war das Gesetz des Dschungels, das Überleben des Tüchtigsten. Und jedesmal, wenn der Arbeiterbestand eine kritische Untergrenze zu erreichen drohte, trafen, wie Viehtransporte, Güterzüge voll neuer Gefangener ein. Manchmal starben unterwegs bis zu zwanzig Prozent der » Sendung « , aber das interessierte niemanden. Die neuen Sträflinge waren größtenteils Russen und Osteuropäer, die aus dem Westen des Reiches herbeigeschafft wurden. Zum Glück für Boris funktionierte Stalins Politik der Gewalt dort wie eh und je. Mein Plan war, Boris zu töten. Ich wußte natürlich, daß die Beseitigung dieses einen Mannes keine Garantie dafür war, daß sich unsere Situation auch nur im mindesten verbessern würde. So oder so würde sie eine Hölle auf Erden bleiben. Aber ich konnte einfach nicht zulassen, daß dieser Mann die Welt weiter durch seine Existenz verpestete. Wie Nikolai gesagt hatte, war er eine Giftschlange in Menschengestalt. Jemand würde ihm den Kopf abhacken müssen.
    Ich hatte keine Angst zu sterben. Am liebsten wäre es mir sogar gewesen, wenn Boris mich getötet hätte, während ich ihn tötete. Aber ich durfte mir keinen Fehler leisten. Ich mußte geduldig auf den einen Augenblick warten, da ich absolut sicher sein konnte, daß ich ihn unfehlbar töten würde: daß ich sein Leben mit einer einzigen Kugel auslöschen konnte. Ich spielte weiter die Rolle seines getreuen Sekretärs, während ich auf die Gelegenheit wartete, mich auf meine Beute zu stürzen. Aber wie ich schon sagte, Boris war ein äußerst vorsichtiger Mann. Er ließ den Tataren Tag und Nacht nicht von seiner Seite weichen. Und selbst wenn ich auch einmal mit ihm allein geblieben wäre, wie hätte ich ihn töten können, mit nur einer Hand und ohne eine Waffe? Dennoch ließ ich in meiner Wachsamkeit nicht nach und wartete auf den richtigen Augenblick. Wenn es irgendwo in dieser Welt einen Gott gab, dann - davon war ich überzeugt - würde die Gelegenheit auch einmal kommen.
     
     
    Anfang 1948 breitete sich im Lager das Gerücht aus, daß man den japanischen Kriegsgefangenen endlich die Heimkehr gestatten würde, daß im Frühjahr ein Schiff für unsere Repatriierung bereitgestellt werden würde. Ich fragte Boris danach. » Es stimmt, Leutnant Mamiya « , sagte er. » Was man sich erzählt, ist wahr. Ihr werdet schon recht bald alle repatriiert. Wir werden euch nicht mehr allzu lange hier arbeiten lassen können, zum Teil dank der Meinung der Weltöffentlichkeit. Aber ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen, Leutnant. Was hielten Sie davon, in diesem Land zu bleiben - nicht als Kriegsgefangener, sondern als freier Sowjetbürger? Sie haben mir sehr gut gedient, und es wird äußerst schwierig sein, einen Ersatz für Sie zu finden. Für Sie wiederum dürfte es erheblich angenehmer sein, hier bei mir zu bleiben, als nach Japan zurückzukehren und dort in Armut und Elend zu leben. Wie ich höre, haben die Leute dort nichts zu essen. Sie verhungern. Hier hätten Sie Geld, Frauen, Macht - alles. « Boris hatte mir dieses Angebot in völligem Ernst unterbreitet. Er wußte, daß es gefährlich sein konnte, mich, der ich in seine intimsten finanziellen Geheimnisse eingeweiht war, ziehen zu lassen. Wenn ich jetzt ablehnte, konnte er auf die Idee kommen, daß es sicherer wäre, mich ein für allemal zum Schweigen zu bringen. Aber ich hatte keine Angst. Ich dankte ihm für sein freundliches Angebot, erklärte aber, daß ich es aus Sorge um meine Eltern und meine Schwester vorzöge, nach Japan zurückzukehren. Boris zuckte kurz die Achseln und sagte nichts mehr.
    Die perfekte Gelegenheit, ihn zu töten, bot sich mir eines Abends im März, als der Tag unserer Repatriierung bereits in greifbare Nähe gerückt war. Kurz vor neun war der Tatar aus dem Zimmer gegangen und hatte mich mit Boris allein gelassen. Ich arbeitete wie immer an den Büchern, und Boris saß an seinem Schreibtisch und schrieb einen Brief. Es war ungewöhnlich, daß wir zu so später Stunde noch im Büro saßen. Er trank ab und zu einen Schluck Weinbrand, während sein Füller über das Papier glitt. Am Kleiderständer hingen Boris

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