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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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darauf, daß er wieder herauskam, und fragte mich gleichzeitig, was ich dann tun würde. Ich konnte in dem Augenblick, wo er herauskam, ins Zimmer schlüpfen. In Zimmer 208 war eindeutig jemand. Wenn die Dinge sich weiter so entwickelten wie beim erstenmal (was bis jetzt genau der Fall gewesen war), dann mußte die Tür eigentlich unverschlossen sein. Andererseits konnte ich das Zimmer auch fürs erste aus dem Spiel lassen und dem Kellner nachgehen. Auf diese Weise würde sich wahrscheinlich herausfinden lassen, woher er kam. Ich schwankte zwischen diesen zwei Möglichkeiten, aber am Ende entschied ich mich dafür, dem Kellner zu folgen. In Zimmer 208 lauerte etwas Gefährliches, etwas, was tödliche Auswirkungen haben konnte. Ich erinnerte mich nur zu gut an das scharfe Klopfgeräusch in der Dunkelheit und den mörderischen weißen Glanz eines dolchähnlichen Gegenstands. Ich mußte vorsichtiger sein. Erst einmal sehen, wo der Kellner mich hinführen würde. Dann konnte ich hierher zurückkommen. Aber wie sollte ich das anstellen? Ich steckte die Hände in die Taschen und fand darin, neben einem Taschentuch, meinem Portemonnaie und Kleingeld, einen kurzen Kugelschreiber. Ich zog ihn heraus und malte mir einen Strich auf die Hand, um mich zu vergewissern, daß er auch schrieb. Ich konnte mit dem Stift die Wände markieren, während ich dem Kellner folgte. Mit Hilfe der Markierungen würde ich dann zum Zimmer zurückfinden. Das müßte eigentlich klappen. Die Tür öffnete sich, und der Kellner kam mit leeren Händen wieder heraus. Er hatte alles im Zimmer gelassen, einschließlich des Tabletts. Nachdem er die Tür geschlossen hatte, straffte er sich und fing an, Die diebische Elster zu pfeifen, während er eiligen Schritts denselben Weg einschlug, den er gekommen war. Ich verließ mein Versteck im Schatten der großen Vase und folgte ihm. Jedesmal, wenn sich der Korridor gabelte, malte ich ein kleines blaues X auf die cremefarbene Wand. Der Kellner sah sich kein einzigesmal um. Er hatte eine ganz besondere Art zu gehen; er hätte als stilistisches Vorbild bei der Hotelkellner-Gangart-Weltmeisterschaft auftreten können. Sein Gang verkündete gleichsam: » So muß ein Hotelkellner gehen: Kopf hoch, Kinn vorgereckt, Rücken gerade, Arme im Takt der Ouvertüre zur Diebischen Elster rhythmisch vor- und zurückschwingend, mit raumgreifenden Schritten den Korridor entlang.« Er bog um mehrere Ecken, stieg viele kurze Treppen hinauf und hinunter, ging durch heller oder dunkler beleuchtete Abschnitte, an Nischen und Wandvertiefungen vorbei, die unterschiedlich geartete Schatten erzeugten. Trotz des Abstands, den ich von ihm hielt, um nicht entdeckt zu werden, war es nicht sonderlich schwierig, ihm zu folgen. Selbst wenn er vorübergehend hinter einer Ecke verschwand, bestand dank seinem volltönenden Pfeifen nie die Gefahr, daß ich ihn verlor.
    Ebenso wie ein stromauf wandernder Lachs früher oder später ein ruhiges Wasserloch erreicht, trat der Kellner aus dem letzten Korridorabschnitt ins Foyer: die überfüllte Hotelhalle, in der ich Noboru Wataya im Fernsehen gesehen hatte. Diesmal war das Foyer allerdings fast ausgestorben: Es waren lediglich eine Handvoll Leute da, die vor einem großen Fernsehgerät saßen und sich eine Nachrichtensendung von NHK ansahen. Aus Rücksicht den Leuten gegenüber hatte der Kellner, als er sich dem Foyer näherte, sein Pfeifen eingestellt. Jetzt durchquerte er die Halle und verschwand hinter einer Tür, auf der »Zutritt nur für Personal« zu lesen stand.
    Ich tat so, als wollte ich nur die Zeit totschlagen, und schlenderte ein wenig im Foyer umher, setzte mich kurz auf ein Sofa, dann auf ein anderes, dann auf noch ein anderes, sah zur Decke auf, stellte fest, wie dick der Teppich unter meinen Füßen war. Dann ging ich zu einem öffentlichen Telefon und warf eine Münze ein. Dieses Telefon war genauso tot, wie das im Zimmer gewesen war. Ich nahm den Hörer eines Haustelefons ab und tippte »208« ein, aber auch dieses Telefon war tot. Anschließend setzte ich mich in einen etwas abseits stehenden Sessel, um die Fernsehenden unauffällig beobachten zu können. Die Gruppe bestand aus zwölf Leuten, neun Männern und drei Frauen, größtenteils im Alter zwischen Anfang, Mitte Dreißig und Ende Vierzig; zwei mochten Anfang der Fünfzig sein. Die Männer trugen alle Anzüge oder Sportsakkos und konservative Krawatten und Lederschuhe. Abgesehen von gewissen Unterschieden in Körpergröße und

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