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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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verfehlt. Ich war kein schlechter Schütze. Als ich in Hsin-ching stationiert gewesen war, hatte ich mich immer mit großer Begeisterung an den regelmäßigen Zielschießübungen beteiligt. Und auch wenn ich jetzt nur noch meine rechte Hand hatte, war diese Rechte kräftiger als die der meisten Leute, und die Walther war eine hervorragend ausbalancierte Waffe, die einem ein exaktes, ruhiges Zielen ermöglichte. Ich konnte nicht glauben, daß ich ihn verfehlt hatte. Wieder spannte ich den Hahn und zielte. Ich atmete scharf ein und sagte mir: » Du mußt diesen Mann töten. « Indem ich ihn tötete, konnte ich der Tatsache, daß ich gelebt hatte, einen gewissen Sinn verleihen.
    » Zielen Sie jetzt gut, Leutnant Mamiya. Es ist ihre letzte Kugel. « Boris lächelte noch immer.
    In diesem Moment kam der Tatar mit gezogener Pistole ins Zimmer gestürzt. » Halt dich raus « , bellte ihn Boris an. » Laß Mamiya auf mich schießen. Wenn er es schafft, mich zu töten, kannst du tun, was du willst. « Der Tatar nickte und richtete die Mündung seiner Waffe auf mich. Die Hand fest um den Griff der Walther gekrampft, streckte ich den rechten Arm aus, zielte auf die Mitte von Boris ’ verächtlichem, selbstsicherem Lächeln und drückte eiskalt ab. Der Rückstoß war heftig, aber ich hielt die Pistole ruhig. Es war ein tadellos ausgeführter Schuß. Aber wieder sauste die Kugel an Boris’ Kopf vorbei - diesmal um die Wanduhr, die hinter ihm hing, in eine Million Stücke zerspringen zu lassen. Boris zuckte nicht einmal mit der Wimper. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und hielt seine Schlangenaugen weiter starr auf mich gerichtet. Die Pistole schlug krachend auf den Boden.
    Im ersten Moment rührte sich oder sprach niemand. Bald aber stand Boris von seinem Stuhl auf und bückte sich nach der Pistole, die ich fallen gelassen hatte. Nach einem langen nachdenklichen Blick auf die Waffe ging er zum Kleiderständer und steckte sie wieder in ihr Halfter. Dann klopfte er mir zweimal auf den Arm, wie um mich zu trösten. » Ich hatte es Ihnen doch gesagt, daß Sie mich nicht töten können « , sagte Boris. Er holte ein Päckchen Camel aus der Tasche, steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie mit seinem Feuerzeug an. » Sie haben schon richtig gezielt. Es war nur so, daß Sie mich nicht töten konnten. Sie sind nicht befähigt, mich zu töten. Das ist der einzige Grund, warum Sie Ihre Chance verpaßt haben. Und jetzt werden Sie leider meinen Fluch mit in die Heimat nehmen müssen. Hören Sie zu: Wo immer Sie sein mögen, Sie werden niemals glücklich sein. Sie werden nie einen Menschen lieben und nie von einem Menschen geliebt werden. Das ist mein Fluch. Ich werde Sie nicht töten. Aber ich verschone Sie nicht aus Freundlichkeit. Ich habe im Laufe der Jahre viele Menschen getötet, und ich werde viele weitere töten. Aber ich töte nie jemanden, bei dem keine Notwendigkeit dazu besteht. Leben Sie wohl, Leutnant Mamiya. In einer Woche werden Sie zum Hafen von Nachodka aufbrechen. Gute Reise. Unsere Wege werden sich nie wieder kreuzen. «
    Das war das letztemal, daß ich Boris den Menschenschinder sah. In der darauffolgenden Woche verließ ich das Konzentrationslager und wurde per Zug nach Nachodka befördert. Nach vielen verwickelten Ereignissen in dieser Stadt gelangte ich schließlich, Anfang des darauffolgenden Jahres, nach Japan.
     
    Ehrlich gesagt, weiß ich wirklich nicht, welche Bedeutung diese meine lange seltsame Geschichte für Sie, Herr Okada, haben kann. Vielleicht ist sie nicht mehr als das Gestammel eines alten Mannes. Aber ich wollte - ich mußte - sie Ihnen erzählen. Wie Sie nach Lektüre dieses Briefes nun selbst erkennen können, ist mein ganzes Leben eine einzige Niederlage gewesen. Ich habe verloren. Ich bin verloren. Ich bin zu nichts fähig. Kraft dieses Fluches liebe ich niemanden und werde von niemandem geliebt. Eine wandelnde leblose Hülse, werde ich dereinst einfach im Dunkel verschwinden. Doch da es mir zuletzt nun doch gelungen ist, meine Geschichte an Sie weiterzugeben, Herr Okada, wird es mir möglich sein, mit einem gewissen, bescheidenen Gefühl der Zufriedenheit zu verschwinden. Möge Ihr Leben ein gutes sein, ein Leben ohne Reue.

35
    E IN GEFÄHRLICHER ORT
    DIE FERSEHZUSCHAUER
    DER HOHLE MANN
     
    Die Tür begann sich einwärts zu öffnen. Das Tablett nun auf beiden Händen, deutete der Kellner eine Verbeugung an und trat ein. Im Schatten der Vase verborgen, wartete ich

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