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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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erschien das Büro, in dem das Verbrechen stattgefunden hatte. Mehrere Stühle lagen umgestürzt auf dem Boden, und halb im Hintergrund war eine schwarze Blutlache zu sehen.
    »Der Angriff erfolgte so plötzlich, daß weder der Abgeordnete Wataya noch die anderen Anwesenden eine Möglichkeit zur Gegenwehr hatten. Nachdem der Attentäter sich vergewissert hatte, daß der Abgeordnete bewußtlos war, floh er, ohne den Schläger aus der Hand zu lassen, vom Schauplatz des Verbrechens. Nach Aussage der Augenzeugen habe der ungefähr dreißigjährige Mann eine marineblaue Seemannsjacke, eine ebenfalls blaue wollene Skimütze und eine dunkle Brille getragen. Er sei ungefähr einen Meter fünfundsiebzig groß gewesen und habe ein blutergußähnliches Mal an der rechten Wange gehabt. Die Polizei fahndet nach dem Mann, dem es allerdings gelungen zu sein scheint, unmittelbar nach Verlassen des Gebäudes im Passantenstrom unterzutauchen.« Auf dem Bildschirm erschien noch einmal der Tatort, diesmal mit mehreren Polizisten, und dann eine belebte Straße in Akasaka. Baseballschläger? Mal im Gesicht? Ich biß mir auf die Lippe. »Noboru Wataya war bereits ein prominenter Wirtschaftsfachmann und politischer Kommentator, als er diesen Frühling das Erbe seines Onkels, des langjährigen Unterhausmitglieds Yoshitaka Wataya, antrat und in das Repräsentantenhaus gewählt wurde. Seither in immer breiteren Kreisen als einflußreicher junger Politiker und Polemiker gefeiert, war Noboru Wataya ein Neuling auf dem politischen Parkett, in den gleichwohl hohe Erwartungen gesetzt wurden. Die polizeilichen Nachforschungen laufen in zwei unterschiedliche Richtungen, da die Tat nach dem gegenwärtigen Stand der Ermittlungen sowohl politisch motiviert sein als auch einen persönlichen Racheakt darstellen könnte. Wir wiederholen unsere aktuelle Meldung: Noboru Wataya, das prominente neue Mitglied des Repräsentantenhauses, ist nach einem heute vormittag auf ihn verübten Anschlag durch einen Unbekannten mit schweren Kopfverletzungen ins Krankenhaus eingeliefert worden. Über seinen Zustand ist zur Zeit nichts Näheres bekannt. Und nun weitere Nachrichten -«
    Jemand hatte an diesem Punkt anscheinend den Fernseher ausgeschaltet. Dem Nachrichtensprecher wurde das Wort abgeschnitten, und Schweigen senkte sich auf die Hotelhalle. Die Leute lösten sich allmählich aus ihrer angespannten Haltung. Es war offensichtlich, daß sie sich eigens vor dem Fernseher versammelt hatten, um das Neuste über Noboru Wataya zu erfahren. Nachdem das Gerät verstummt war, rührte sich niemand. Niemand gab einen Laut von sich. Wer konnte Noboru Wataya mit einem Schläger verletzt haben? Die Beschreibung des Täters paßte genau auf mich: die marineblaue Seemannsjacke und Mütze, die Sonnenbrille, das Mal an der Wange, Größe, Alter - und der Baseballschläger. Ich hatte meinen Schläger monatelang auf dem Grund des Brunnens gelassen, aber dann war er verschwunden. Falls dieser Schläger derjenige war, mit dem man Noboru Wataya den Schädel eingeschlagen hatte, dann mußte ihn jemand zu diesem Zweck gestohlen haben. In diesem Moment richtete eine der Frauen in der Gruppe den Blick auf mich - eine magere Frau mit vorstehenden Backenknochen und einem Fischgesicht. Sie trug weiße Ohrstecker, die ihr genau in der Mitte der sehr langen Ohrläppchen saßen. Sie hatte sich in ihrem Sessel herumgedreht und blieb sehr lange in dieser Haltung sitzen, ohne ihre starren Augen von mir abzuwenden oder ihren Ausdruck zu verändern. Nach einer Weile folgte der kahlköpfige Mann, der neben ihr saß, der Richtung ihres Blicks, drehte sich um und sah mich an. Mit seiner Statur und Körpergröße erinnerte er mich an den Besitzer der Reinigung am Bahnhof. Einer nach dem anderen wandten sich auch alle übrigen in meine Richtung, als würden sie erst in diesem Moment auf meine Anwesenheit aufmerksam. Ihren unbewegten Blicken ausgesetzt, wurde ich mir mit peinlicher Klarheit meiner marineblauen Seemannsjacke, meiner Körpergröße von knapp einsfünfundsiebzig, meines Alters und des Mals an meiner rechten Wange bewußt. Diese Leute schienen außerdem alle zu wissen, daß ich Noboru Watayas Schwager war und ihn nicht nur nicht mochte, sondern regelrecht aktiv haßte. Ich konnte es an ihren Augen ablesen. Meine Hand krampfte sich um die Lehne meines Sessels, und ich fragte mich, was ich tun sollte. Ich hatte Noboru Wataya nicht mit einem Baseballschläger angegriffen. Ich war nicht der Typ

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