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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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mich, Klavierunterricht zu nehmen! Irgend jemand mußte ja den großen Flügel benutzen, nachdem sie gestorben war. Ich war nicht im mindesten daran interessiert, Klavierspielen zu lernen. Ich wußte, daß ich nie so gut würde spielen können wie sie, und auf eine weitere Möglichkeit, meinen Eltern zu beweisen, wieviel weniger ich als Mensch wert war als sie, konnte ich dankend verzichten. Ich konnte niemandes Platz einnehmen, am allerwenigsten ihren, und ich wollte es auch gar nicht erst versuchen. Aber sie hörten nicht auf mich. Sie hörten einfach nicht zu. Und so kommt’s, daß ich den Anblick eines Klaviers noch heute nicht ertrage. Mir dreht sich alles um, wenn ich jemanden spielen sehe.«
    Als Kumiko mir das erzählte, verspürte ich eine ungeheure Wut auf ihre Angehörigen. Wegen dem, was sie ihr angetan hatten. Wegen dem, was sie für sie nicht getan hatten. Wir waren damals noch nicht verheiratet. Wir kannten uns erst seit gut zwei Monaten. Es war an einem stillen Sonntagmorgen, und wir lagen zusammen im Bett. Sie hatte lange über ihre Kindheit gesprochen, so, als entwirrte sie einen verhedderten Faden, immer wieder innehaltend, um die Wahrheit jedes einzelnen Ereignisses, das sie zutage förderte, zu überprüfen. Es war das erste Mal, daß sie mir so viel von sich erzählte. Bis zu diesem Morgen hatte ich über ihre Familie oder ihre Kindheit so gut wie nichts gewußt. Ich wußte, daß sie ein stiller Mensch war, daß sie gern zeichnete, daß sie langes, schönes Haar hatte, daß sie zwei Leberflecke auf dem rechten Schulterblatt hatte. Und daß es mit mir ihr allererstes sexuelles Erlebnis gewesen war.
    Sie weinte ein bißchen, während sie sprach. Ich konnte das durchaus verstehen. Ich hielt sie in den Armen und streichelte ihr Haar. »Wenn sie noch lebte, ich bin sicher, daß du sie lieben würdest«, sagte Kumiko. »Jeder liebte sie. Es war Liebe auf den ersten Blick.«
    »Mag sein«, sagte ich. »Aber zufällig bist du diejenige, in die ich verliebt bin. Es ist im Grunde ganz einfach, weißt du. Es geht nur um dich und mich. Deine Schwester hat nichts damit zu tun.«
    Eine Zeitlang lag Kumiko da und dachte nach. Sonntag morgen um halb acht: eine Zeit, wo alles gedämpft und hohl klingt. Ich hörte den Tauben zu, die über das Dach über meiner Wohnung schlurften, hörte jemanden in der Ferne seinen Hund rufen. Kumiko starrte endlos lange unverwandt an die Decke. »Sag mal«, sagte sie schließlich, »magst du Katzen?«
    »Ich bin verrückt nach den Viechern«, sagte ich. »Als Kind habe ich immer eine gehabt. Ich hab andauernd mit ihr gespielt, sie sogar mit ins Bett genommen.«
    »Du Glücklicher. Ich hätte sonstwas für eine Katze gegeben, aber ich durfte nicht. Meine Mutter konnte Katzen nicht ausstehen. Ich hab’s nicht ein Mal in meinem Leben geschafft, etwas zu bekommen, was ich wirklich wollte. Nicht ein Mal. Kannst du dir das vorstellen? Du machst dir keinen Begriff davon, was es heißt, so zu leben. Wenn du dich erst an ein solches Leben gewöhnt hast - nie zu bekommen, was du willst -, dann weißt du irgendwann auch nicht mehr, was du eigentlich willst.« Ich nahm ihre Hand. »Mag sein, daß es für dich bislang so gewesen ist. Aber jetzt bist du kein Kind mehr. Du hast das Recht, dir dein eigenes Leben auszusuchen. Du kannst neu anfangen. Wenn du eine Katze willst, brauchst du dir nur ein Leben auszusuchen, in dem du eine Katze haben kannst. Es ist ganz einfach. Es ist dein Recht … richtig?«
    Sie sah mir fest in die Augen. »Hmm«, sagte sie. »Richtig.« Ein paar Monate später redeten Kumiko und ich vom Heiraten.
     
    Wenn die Kindheit, die Kumiko in diesem Haus verlebt hatte, verkrampft und schwierig gewesen war, wurde Noboru Wataya als Junge in eine andere Richtung, aber nicht minder seltsam verbogen. Die Eltern vergötterten ihren einzigen Sohn, aber sie begnügten sich nicht damit, ihn mit Zuneigung zu überschütten; sie stellten auch bestimmte Forderungen an ihn. Der Vater war fest davon überzeugt, die einzige Möglichkeit, in der japanischen Gesellschaft ein sinnvolles, befriedigendes Leben zu führen, sei, sich auf die bestmögliche Weise zu qualifizieren und jeden beiseite zu drängen, der einem auf dem Weg nach oben im Weg stand. Daran glaubte er unerschütterlich.
    Ich war noch nicht lange mit seiner Tochter verheiratet, als ich dieses Glaubensbekenntnis aus seinem eigenen Mund vernahm. Alle Menschen seien nicht gleich erschaffen, sagte er. Das sei nur erbauliches

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