Mister Aufziehvogel
Gewäsch, das man in der Schule beigebracht bekomme. Der politischen Organisation nach möge Japan eine Demokratie sein, zugleich aber sei es eine mörderische, kannibalische Klassengesellschaft, in der die Schwachen von den Starken aufgefressen würden, und wenn man es nicht bis ganz nach oben schaffe, habe es nicht den geringsten Sinn, in diesem Land zu leben. Man gerate unter die Räder und werde einfach zu Staub zermahlen. Stufe für Stufe für Stufe müsse man sich hinaufkämpfen. Ein solcher Ehrgeiz sei durchaus gesund. Sollten die Menschen diesen Ehrgeiz je verlieren, würde Japan untergehen. Ich behielt meine Meinung über diese Ansichten für mich. Aber mein Schwiegervater war an meiner Meinung auch nicht interessiert. Er hatte lediglich sein Credo verkündet: eine Überzeugung, die in alle Ewigkeit unverändert fortbestehen würde.
Kumikos Mutter war die Tochter eines hohen Beamten. Sie war in der besten Gegend von Tokio aufgewachsen, hatte nie etwas entbehren müssen und besaß weder die Ansichten noch die Charakterstärke, gegen die Meinung ihres Mannes zu opponieren. Soweit ich sah, hatte sie überhaupt zu nichts, was sich nicht unmittelbar vor ihrer Nase befand, eine Ansicht (tatsächlich war sie stark kurzsichtig). Wann immer sie in eine Situation geriet, in der sie eine Meinung zu irgend etwas in der weiteren Welt benötigte, borgte sie sich die ihres Gatten. Wäre das alles gewesen, hätte sie niemanden gestört, aber wie viele solcher Frauen litt sie an unheilbarer Prätentiosität. Bar aller eigenen, verinnerlichten Wertvorstellungen, können solche Menschen einen Standpunkt nur einnehmen, indem sie sich die Maßstäbe oder Ansichten anderer zu eigen machen. Ihr Denken ist ausschließlich von der Frage beherrscht: »Was für einen Eindruck mache ich?« Und so wurde Frau Wataya zu einer beschränkten, überspannten Person, deren Interesse einzig der beruflichen Stellung ihres Mannes und den akademischen Leistungen ihres Sohnes galt. Was außerhalb ihres engen Gesichtskreises lag, wurde für sie bedeutungslos.
Und so hämmerten die Eltern ihre fragwürdige Lebensphilosophie und ihre verbogene Weltsicht in den Kopf des jungen Noboru Wataya. Sie trieben ihn an, besorgten ihm die besten Privatlehrer, die für ihr Geld zu haben waren. Wenn er in der Schule glänzte, kauften sie ihm zur Belohnung alles, was er sich nur wünschte. Seine Kindheit war von äußerstem materiellen Luxus umgeben, aber als er in die empfindlichste, verletzlichste Phase des Lebens eintrat, halte er keine Zeit für Freundinnen, nie Gelegenheit, mit anderen Jungen über die Stränge zu schlagen. Er mußte seine gesamte Energie darin investieren, seine Spitzenposition zu halten. Ob Noboru Wataya gern so lebte, weiß ich nicht. Kumiko wußte es ebensowenig. Es war nicht Noboru Watayas Art, seine Gefühle zu offenbaren: ihr nicht, seinen Eltern nicht und auch sonst niemandem. Er hatte ohnehin keine Wahl. Ich habe den Eindruck, daß bestimmte Denkbahnen so simpel und einseitig sind, daß sie unwiderstehlich wirken. Jedenfalls absolvierte Noboru Wataya seine Vorbereitungszeit auf einer privaten Eliteschule, belegte an der Tokio-Universität Wirtschaftswissenschaften und schloß sein Grundstudium an dieser hervorragenden Lehranstalt mit hervorragenden Noten ab.
Sein Vater hatte von ihm erwartet, er würde nach seiner Graduierung die höhere Beamtenlaufbahn einschlagen oder sich um einen leitenden Posten in einem großen Unternehmen bewerben, aber Noboru Wataya beschloß, an der Universität zu bleiben und nach akademischen Lorbeeren zu streben. Er war kein Dummkopf. Er wußte, wofür er sich am besten eignete: nicht für die reale Welt des Teamwork, sondern für eine Welt, die den disziplinierten, methodischen Einsatz von Wissen erforderte, die den Wert des einzelnen nach dessen Fachkenntnissen und intellektuellen Fähigkeiten bemaß. Nach zwei Jahren in Yale kehrte er nach Tokio zurück und setzte dort sein Postgraduiertenstudium fort. Er beugte sich den Wünschen seiner Eltern und willigte in eine traditionell arrangierte Ehe ein, die jedoch nur zwei Jahre hielt. Nach seiner Scheidung zog er wieder zu seinen Eltern. Als ich ihn kennenlernte, war Noboru Wataya eine voll ausgebildete, abnorme Persönlichkeit, ein durch und durch widerlicher Mensch.
Knapp zwei Jahre nach meiner und Kumikos Heirat veröffentlichte Noboru Wataya ein großes, dickes Buch. Es war eine wirtschaftswissenschaftliche Studie, die von Fachausdrücken nur so
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